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Der Klavierstimmer

Der Klavierstimmer

Titel: Der Klavierstimmer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Pascal Mercier
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blaßgelben Wänden und den vielen kleinen Spiegeln in einen Teil ihrer selbst, es war, als besitze sie die magische Fähigkeit, den äußeren Raum aus der Welt herauszulösen und zu einer Facette ihrer Innenwelt zu machen. Jetzt, wo sie nicht da war, wirkte das Zimmer seelenlos, als sei es verstoßen und der öden, langweiligen Wirklichkeit übergeben worden - ein bißchen wie eine Bühne, die man im nüchternen Licht des Vormittags betritt. Nach und nach zog ich alle Schubladen des Schminktischs auf, die Griffe fühlten sich glatt und vornehm an. Auf den Umschlag stieß ich in der mittleren Schublade, er lag ganz hinten und wirkte, als läge er in einem Geheimfach, allen Blicken entzogen. Mein Gesicht brannte, ich wußte, daß ich etwas Verbotenes tat, als ich die Fotos herausnahm.
    Auf den ersten Bildern war nur Maman zu sehen, fotografiert aus den verschiedensten Winkeln. Sie hatte eine Pistole in der Hand und zielte. Zwei Bilder zeigten den Blick über ihre Schulter hinweg und den ausgestreckten Arm entlang bis zu der Hand, die den Griff umfaßte. Ein kleines Stück des Griffs war nicht verdeckt und schimmerte weiß wie Perlmutt. Im Hintergrund war unscharf eine Zielscheibe zu erkennen. Dann kamen Aufnahmen, die zeigten, wie GP Maman das Schießen beibrachte. Er stand hinter ihr, umfaßte sie mit beiden Armen und stützte ihr den Arm mit der Pistole. Beide blickten sie direkt in die Kamera und lachten ein übertriebenes, ein bißchen künstliches Lachen. Ich war erstaunt, daß Maman einmal so jung gewesen war. Mit ihrem Pferdeschwanz und der Mütze hatte sie etwas von einem Schulmädchen. Auf dem letzten Bild posierten sie als Vater und Tochter, er hatte seinen Arm um sie gelegt und zog sie an sich. Ich mochte das Bild nicht und schob es unter den Stapel.
    Hätten sich die Fotos nur ohne Widerstand in den Umschlag zurückschieben lassen! Doch da war etwas hinten im Umschlag, was sich sperrte, und als ich drückte, bekam das Kuvert einen Riß. Ich nahm die Bilder wieder heraus und schüttelte den Umschlag aus. Schnipsel eines zerrissenen Fotos fielen auf den Schminktisch. Es waren viele kleine Schnipsel, und auf den ersten Blick war nichts von der Szene zu erkennen. Es war niemand im Haus, und Maman würde noch lange weg sein. Trotzdem tat ich die Fotos zurück in den Umschlag, schob ihn in die hinterste Ecke der Schublade, löschte das Licht und ging in mein Zimmer. Es war das erste Mal, daß ich abschloß. Dann setzte ich mich an den Schreibtisch, holte die Schnipsel aus der Hosentasche und begann mit dem Puzzle.
    Das ist jetzt mehr als fünfzehn Jahre her, doch jetzt, wo ich noch einmal in den kleinen Jungen hineinschlüpfe, spüre ich wieder die angstvolle Spannung, mit der ich das Bild zusammensetzte. Ich begann mit den Schnipseln, die zum Rand gehörten, und arbeitete mich nach innen vor. Es war wieder eine Aufnahme von GP, der hinter Maman stand, das war schnell klar. Doch je weiter ich ins Zentrum vorstieß, desto kleiner wurden die Schnipsel. Dort, in der Bildmitte, mußte etwas sein, was Maman veranlaßt hatte, noch einmal und noch einmal zu reißen. Der Rahmen war jetzt komplett, und auch Mamans safrangelbe Hose, zu der sie schwarze Stiefeletten trug, war ganz. Die Köpfe waren mehrfach durchgerissen, und weiter unten, auf Brusthöhe, wo auch die Pistole sein mußte, war es noch schlimmer, da waren die Schnipsel winzig. Wie groß muß Mamans Wut und Abscheu gewesen sein!
    Ich ging ins Badezimmer und holte aus dem Arzneischrank die Pincette. Dann schloß ich wieder ab und begann, die winzigen Teilchen mit Klebstoff auf ein Blatt Papier zu kleben. Einmal ging mir durch den Kopf, daß ich sie danach nicht mehr in den Umschlag zurücktun konnte. Doch in der Aufregung wischte ich den Gedanken beiseite. Mit der Sorgfalt eines Chirurgen probierte ich an den trockenen Schnipseln zunächst die richtige Position aus, wischte dann über den Klebstoff und fügte das jeweilige Teilchen so nahtlos ein, daß von den weißen Rissen kaum mehr etwas zu sehen war.
    Als ich GPs Lippen zusammengefügt und die Umgebung ergänzt hatte, sah ich, daß er Maman auf den Hals küßte. Es war mir zuwider, das zu sehen, aber ich war nicht sicher, ob es etwas Verwerfliches war und schlimm genug, um Mamans Zerreißorgie zu erklären. Sicher war ich nur, daß Vater so etwas mit dir nicht gemacht hätte. Doch GP war in vielen Dingen so anders als Vater … Ich machte weiter. Ich hatte erwartet, daß GPs Arme auch auf diesem Bild

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