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Der Klavierstimmer

Der Klavierstimmer

Titel: Der Klavierstimmer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Pascal Mercier
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meine Aufzeichnungen, sie verschmelzen zu einer sonderbaren, schwebenden Art von Gegenwart. Ich teile, indem ich mich in die Vergangenheit versetze, Vaters Musik mit ihm, und ich teile, indem ich mich in die Zukunft deines Lesens versetze, meine Gedanken mit dir. Eine Gegenwart also, die überall ist, nur nicht in der Gegenwart. Mit jedem Tag, der so vorbeigeht, legt sich eine hauchdünne Schicht dieser sonderbaren, paradoxen Gegenwart über die Vergangenheit der Familie Delacroix. Inzwischen ist diese Aufschichtung von Gegenwart schon so weit gediehen, daß es nicht mehr vorstellbar wäre, die Möbel zurückzuholen.
    Wie aber wird es sein, wenn der letzte Ton von Vaters Musik verklungen und das letzte meiner Worte von dir gelesen sein wird?

    Unser Wiedersehen: Wie schrecklich die Dinge auch waren, über die wir sprechen mußten - wir waren beide (so schien es mir) froh, ein Thema zu haben, das uns nicht zwang, unsere Empfindungen in Worte zu fassen. Wir saßen auf deinem Bett, und einmal ging mir der Gedanke durch den Kopf, wie gut es war, daß wir so unbefangen zusammen auf einem Bett sitzen konnten. Nie zuvor habe ich dich so heftig weinen sehen wie damals, als du vom Gefängnisbesuch erzähltest. Szene für Szene, Bild für Bild brach es aus dir heraus, ohne Ordnung und unterbrochen durch Weinkrämpfe, welche die Worte verzerrten, so daß ich nur langsam verstand. Der Raum mit den Gitterstäben und den braunen Schlieren an der Wand. Vater in den Kleidern vom Vorabend, die wie eine geschmacklose Maskerade wirkten. Und vor allem: der Aufseher, immer wieder der Aufseher. Wenn du von ihm sprachst, waren es Aufschreie von solchem Haß, daß sich deine Stimme überschlug. Die Umarmung, die er verbot. Die Art, wie er mit am Tisch saß, jeden Austausch von Blicken und Worten überwachend. Er zerschnitt unsere Blicke mit dem seinen, wie mit einem Messer. Immer wieder hast du diesen einen Satz aus dir herausgepreßt, es klang, als spucktest du etwas aus und müßtest es stets von neuem ausspucken, um weiteratmen zu können.
    Ein einziges Mal nur sprachst du ruhiger: als du erzähltest, wie Vater unvermittelt sagte: Tu dois comprendre: c’est mieux comme ça. Als du beschriebst, wie verschlagen Vater grinste, als der Aufseher, der sich durch die französischen Worte übertölpelt fühlte, protestierte, bekam auch dein Gesicht einen verschlagenen Ausdruck. Nichts hätte deinen Stolz auf Vaters List besser ausdrücken können als das hinterhältige Lächeln, das über dein Gesicht huschte. Heute, wo wir wissen, wie raffiniert Vaters einfach klingende Worte waren, bin auch ich sehr stolz auf ihn.
    Unmöglich. Nicht in dieser Verfassung. Sehen Sie sie an, sie ist ein Wrack. Ob ich diesen Worten einen Sinn abgewinnen könne, fragtest du immer wieder. Ich hätte nicht sagen können: ja. Auch war da noch keine Erinnerung, die sich hätte greifen lassen. Nur die Ahnung eines möglichen Erinnerns war es. Und ich spürte: Dieses Erinnern würde einen Weg gehen müssen, den ich nie mehr hatte gehen wollen. Ein lautloses Erschrecken ergriff Besitz von mir, und ich brachte kein Wort mehr heraus. Es muß dich verletzt haben, daß ich auf einmal wortlos aufstand und in mein Zimmer ging. Wie etwas, das aus weiter Ferne unaufhaltsam näher kommt, spürte ich den wachsenden Sog der Erinnerung. Als ich dann fröstelnd vor Müdigkeit auf meinem Bett lag, gab ich den Widerstand dagegen schließlich auf.
    Sie machte einen großen Umweg, die Erinnerung. Als wisse sie, daß sie mir die Bilder, die Doktor Rubins Worte erklären würden, nicht ohne Umschweife zumuten konnte. Es war ein raffinierter Umweg, denn er begann ganz in der Nähe des Ziels, um mich dann einige Zeit durch Szenen zu führen, die mir (so könnte man sagen) Maman in ihrer Krankheit und Zerbrechlichkeit vor Augen stellen sollten, so daß ich die Bilder, wenn sie schließlich kämen, in der richtigen inneren Umgebung sehen würde.
    Die Worte des Arztes hatten etwas mit penser pensées zu tun, das hatte ich sofort gespürt. Oder jedenfalls mit dem Raum, in dem wir das Spiel zu spielen pflegten. Das Kind von damals konnte nicht wissen, daß die beglückende Erfahrung, die Gedanken der Mutter lesen zu können, noch bevor sie ausgesprochen waren, seine Vorstellung von Nähe für alle Zukunft prägen sollte. Nichts würde in Zukunft ernst zu nehmen sein, wenn es den Vergleich mit dieser Erfahrung nicht aushielt. Dieser Maßstab überdauerte auch meinen Ausbruch gegen Maman, von dem

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