Der Klavierstimmer
nur noch dafür dazusein. Ein Auswandern aus dem Gewöhnlichen wäre das Angemessene. Doch die Leute stiegen in ihre Autos und fluchten, wenn ihnen jemand in die Quere kam - nur wenige Minuten nachdem die wunderbaren Töne inmitten einer atemlosen Stille verklungen waren. Oder sie stritten sich mit der Garderobiere und waren gereizt, wenn der Ehemann sich beim Anziehen des Mantels ungeschickt anstellte. All dies war doch belanglos und keiner Empfindung wert, dachtest du. Wenn sie jetzt diese Dinge taten, dann konnten sie es nicht ernst gemeint haben, als sie still dasaßen, als seien sie von der Musik ergriffen. Praktische Argumente ließest du nicht gelten: Dann müßte eben alles ganz anders organisiert sein, sozusagen um die Musik herum, es sei doch eine verkehrte Welt, wenn die Musik nur am Feierabend kurz aufleuchten dürfe. Was du sagtest, Vater, würde eine Kulturrevolution bedeuten, wie die Welt sie noch nicht gesehen hat.
Es genügt mir nicht mehr, nur die Klavierauszüge der Partituren zu hören. Ich will die Klangbilder, die Vaters Leben waren, genauer kennenlernen. Deshalb habe ich mir einen Plattenspieler und die Partituren von Stücken gekauft, die ich gut kenne. Ich lese sie, während ich die entsprechende Platte höre. Wenn Juliette kommt, werde ich sie den Klavierauszug spielen lassen. Ich werde erleben, wie das vielfältige Klangbild auf die Klaviermelodie zusammenschrumpft. Dann, so stelle ich mir vor, werde ich bei Vaters Werken den umgekehrten Prozeß durchlaufen: Ich höre den Klavierauszug und breite ihn im Inneren zu einem vollständigen Klanggebilde aus, wie er es in sich gehört haben muß.
Letzte Nacht wiederholte ich in einem endlos scheinenden Traum die Notenschlüssel, die Juliette mir erklärt hatte. Irgendwann dann stand ich neben Vater und erklärte ihm diese Schlüssel und wie es mit seinem Stück weiterzugehen habe.
Ein bißchen, Vater, war es wie in jenen schrecklichen Augenblicken, wo du mir die Briefe zeigtest, die den abgewiesenen Partituren beigefügt waren. Mir zeigtest du sie, nur mir. Wohl aus dem Gefühl heraus, daß wir die Bewerbungsschreiben ja auch zusammen verfaßt hatten. Oder auch aus dem allgemeineren Gefühl heraus, daß ich dein Lehrer und Anwalt war, wenn es um Sprache ging. Dabei brauchte man nichts an besonderer sprachlicher Gewandtheit, keinerlei besondere Fähigkeit der Deutung für die trockenen, in einer Art Verwaltungssprache abgefaßten Briefe, die durch angestrengte Höflichkeit noch zusätzlich versteift waren. Es waren Formbriefe, und die Tatsache, daß sie es waren, sollte mühsam verschleiert werden durch persönlich klingende Textbausteine.
Das Schlimmste war, Vater, daß ich sehr bald buchstäblich nicht mehr wußte, was ich dazu sagen sollte. Die Worte der Tröstung von den ersten Malen waren verbraucht, es war mir unmöglich, sie zu wiederholen, und dabei entdeckte ich auch, daß der Wortschatz des Tröstens erschreckend klein und dürftig ist. Du hast stets hinter dem Schreibtisch gesessen und mir, dem Stehenden, den Brief gereicht. Am Anfang habe ich mich gesetzt, das war die natürliche Bewegung um dir zu zeigen, daß ich verstand: Es sollte eine Begegnung zwischen uns sein, ein Gespräch, um die Enttäuschung zu lindern. Doch bald setzte ich mich nicht mehr: Ich wußte nicht, wann und wie ich wieder würde aufstehen können, jedes Aufstehen war, so schien mir, ein abruptes Beenden der Anteilnahme, ich hatte den Eindruck, dich rückwärts in die Einsamkeit deiner Enttäuschung zurückzustoßen. Denn du, so hatte ich das Gefühl, hättest von dir aus diese Begegnungen niemals beendet, du warst so klein und zusammengesunken in deinem tapferen Stolz des Weitermachens, zu etwas anderem als diesem stummen Stolz hattest du an solchen Tagen nicht die Kraft. Und so bin ich später stehengeblieben und habe die Briefe im Stehen gelesen. Ich erfaßte die Botschaft immer häufiger auf einen Blick und mußte mich zusammennehmen, um scheinbar doch jedes Wort genau zu lesen, so wie du es vorher getan hattest, zum Zeichen, daß ich die Botschaft, diese immer gleiche Botschaft, jedesmal erneut in ihrer ganzen Bedeutung würdigte und dein Schmerz nicht durch die Flüchtigkeit des routinierten Blicks mißachtet und dadurch noch vergrößert würde.
Die ersten Briefe hast du mir noch vorgelesen, langsam und stockend wie einer, der gerade lesen gelernt hat. Die Worte, welche eine Bewertung zum Ausdruck brachten, hast du mehrmals ausgesprochen, immer wieder,
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