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Der Klavierstimmer

Der Klavierstimmer

Titel: Der Klavierstimmer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Pascal Mercier
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als gelte es, hinter den Buchstaben die Ehrlichkeit des Urteils zu prüfen. An der Art, wie dein Blick, ja dein ganzes angestrengtes Gesicht an den Worten klebte, konnte man den Versuch erkennen, in die konventionell anerkennenden Worte ein größeres, echtes Lob hineinzulesen, gegen besseres Wissen. In deinem Gesicht konnte man dabei einen Kampf erkennen zwischen Hochachtung vor der urteilenden Instanz und einem hilflosen Haß, der gegen die stets gleiche Front der Ablehnung anbrandete. Dein Gesicht war vergleichbar dem Gesicht eines Angeklagten, der aufgefordert worden war, sich aus Ehrerbietung dem Gericht gegenüber zu erheben, um sein Urteil entgegenzunehmen, ein Urteil, dessen Zustandekommen ihm für immer unverständlich bleiben würde und das in purer Ohnmacht einfach hinzunehmen war. Die Briefe waren kurz. Doch die Zeit, Vater, dehnte sich, während du lasest; um so mehr, als ich das Gefühl hatte, den Atem anhalten zu müssen, um dich in dem inneren Drama, das dich in Stücke zu reißen drohte, nicht zu stören und deinen heiligen Ernst nicht durch Bewegung zu entwerten, nicht einmal durch die lautlose Bewegung der Lungen.
    Selbst die Floskel Mit freundlichen Grüßen und den besten Wünschen für Ihr weiteres Schaffen hast du mir vorgelesen, so langsam und gewissenhaft, als sei es noch ein vollwertiger Bestandteil des Briefes und als könne das ablehnende Urteil durch diese leeren Worte noch verändert oder abgemildert werden.
    Dann hast du mir mit der rührenden und doch fürchterlichen Gleichförmigkeit deines Verhaltens einen Blick zugeworfen, der so kurz und scheu war wie der Blick von jemandem, der gerade ein beschämendes Geständnis abgelegt hat. Ich hätte ihn gerne festgehalten, diesen Blick, um ihn durch meinen Trost vielleicht verwandeln zu können. Aber obwohl du meine Gegenwart brauchtest, um mit der ablehnenden Botschaft nicht allein sein zu müssen, hast du den Blick sofort wieder abgewandt wie einer, der nie daran geglaubt hat, daß ein Tauschen von Blicken irgend etwas gegen Schmerz und den Lauf der Welt auszurichten vermag. Du hast den Brief mit fürchterlicher Langsamkeit und Sorgfalt zusammengefaltet und in den Umschlag zurückgetan. Nie hast du vergessen, das Datum draufzuschreiben, bevor er in die Schublade mit den anderen Absagebriefen kam.

    Ich habe begonnen, Vaters Libretto zu verändern. Die Kinder, denke ich, könnten Kohlhaas auch ganz anders verlassen als durch den Tod: Sie fliehen vor ihm, weil sie den Haß und das Vergeltungsbedürfnis nicht mehr ertragen. Vergeltung, das ist dein Fluch!, könnte Anton singen. Er müßte zu einer Figur werden, die mit dem Vater um das richtige Verständnis von Loyalität und Liebe ringt. Am meisten, glaube ich, leidet er darunter, daß er nicht weiß, wieviel Loyalität er dem Vater schuldet und wo der Verrat beginnt. Auch für Antonina habe ich einen Text geschrieben: Laß die Anderen Andere sein!, bittet sie den Vater, der nicht versteht, daß sein Gefühl für Gerechtigkeit nicht bei allen Menschen das gleiche ist und nicht für alle die gleiche Bedeutung hat.
    Dann habe ich einen Bogen Notenpapier genommen und mit Vaters altem Füller die erste Note meines Lebens geschrieben. Es war ein Flötenton. Ich habe keine Ahnung warum. Ich war nicht sicher, ob ich mir die richtige Tonhöhe vorstellte, aber ich ließ ihn stehen. Das Problem war, daß er eine Umgebung brauchte. Ich gab einige Noten für Bratsche dazu. Als ich mich für einen Takt entschieden hatte, wußte ich nicht, wie es weitergehen sollte: Statt einer Melodie kam immer nur die Erwartung einer Melodie. Da begann ich etwas von dem Abstand zu ahnen, der zwischen Vater und uns anderen gelegen hatte: Er hatte gewußt, was es hieß, etwas Neues zu schaffen; wir nicht.
    Es fiel mir ein, daß er mir auf einem Spaziergang um den Schlachtensee (ich mag elf oder zwölf gewesen sein) etwas über das Komponieren erzählt hatte. Du weißt, was eine Melodie ist, sagte er. Das ist das Kleinste, worum es geht. Das Nächstgrößere ist ein Thema, das man auf verschiedene Weisen entwickeln kann. Es ist Teil von etwas noch Größerem: einer Atmosphäre. Sie ist etwas Umfassendes, dem noch die Struktur und der Aufbau fehlen. Das Größte schließlich ist ein Werk, ein Ganzes, das die eine Komposition von jeder anderen unterscheidet.

    Es ist Montag morgen. Seit einer Woche schreibe ich. Die Zeit hier in dem leeren Haus, sie ist eine traumgleiche Zeit, eine Zeit jenseits der Zeit. Vaters Musik und

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