Der Klavierstimmer
ein leiser Triumph mitzuschwingen. Vielleicht war es auch nur das Rauschen in der Leitung.
Mit dem Anruf gestern nacht wartete ich, bis es hier Viertel nach zwei war. Viertel nach acht, das ist die Zeit, wo die Kinder der psychiatrischen Station ins Bett geschickt werden, um halb neun wird das Licht gelöscht. Da würde ich Paco am ehesten ans Telefon bekommen. Wenn er überhaupt mit mir sprechen wollte.
Mercedes hatte Dienst.«Du hast dir Zeit gelassen», sagte sie.
Das fand ich unfair und schwieg. Schließlich waren es keine Kleinigkeiten, die hier in den letzten Tagen geschehen waren. Mercedes ist eine fabelhafte Krankenschwester, kompetent und aufopferungsvoll. Was mir manchmal Mühe macht, ist, daß die Welt für sie nur aus diesen gestörten Kindern zu bestehen scheint.
«Kann ich ihn sprechen?»fragte ich. Beim letzten Anruf hatte sie kategorisch abgelehnt.
«Warte», sagte sie, und nach einer Weile:«Ich gebe ihn dir jetzt.»
«Paco?»sagte ich und spürte, wie mir das Herz bis zum Hals schlug.«Ich bin’s, Patrice.»
Nichts. Stille. Ich wiederholte seinen Namen, dreimal. Dann endlich hörte ich seine Stimme, hart und knapp:
«Doce días, una hora.» Zwölf Tage, eine Stunde.
Ich verstand nicht sofort und bat ihn zu wiederholen.
«Doce días, una hora.»
Jetzt verstand ich, und es schnürte mir die Kehle zu: Zwölf Tage und eine Stunde, das war die Zeit, die seit dem Abschied mit dem Faustschlag vergangen war. Er hatte gezählt, bis auf die Stunde genau. Ich habe es später nachgerechnet: Es stimmte.
«Ich vermisse dich, Señorito », brachte ich mühsam hervor.
«Er ist schon weg», sagte Mercedes.
Es war mir nicht recht, daß sie unsere Phantasie-Anrede mitgehört hatte. Das ging sie nichts an. Es geht nur Paco und mich etwas an, nur uns beide.
Wie es ihm gehe, hatte ich fragen wollen; wie es mit dem Kopf sei und auch sonst. Das ging jetzt nicht mehr.
«Adiós» , sagte ich förmlich, statt wie sonst Ciao .
Ich werde mit Paco ganz von vorn anfangen müssen. Es wird unendlicher Geduld bedürfen. Er vergißt keinen Schmerz, den man ihm zugefügt hat. Wie Vater.
Vorhin klingelte es, und Baranski stand mit einem Ehepaar vor der Tür, das sich für das Haus interessiert. Er tat, als hätte es neulich keinen Zusammenstoß zwischen uns gegeben. Er war scheißfreundlich. Die Provision geht ihm über alles. Es war scheußlich: wildfremde Leute in unserem Haus, Eindringlinge, die sich über die Räume unterhielten, als seien es irgendwelche Räume. In Vaters Zimmer kamen sie zuletzt. Die Laken vor den Fenstern hatte ich hängenlassen, ich denke gar nicht daran, mich zu verstecken. Der Mann und die Frau blieben in der Nähe der Tür, sichtlich ratlos angesichts der merkwürdigen Verhältnisse. Hin und wieder streiften sie mich mit einem raschen Blick: Das ist also der Sohn der Leute, die Antonio di Malfitano auf dem Gewissen haben; offenbar auch er nicht ganz dicht.«Ein schöner Flügel», sagte die Frau schließlich höflich. Wann man denn mit dem Renovieren beginnen könnte, fragten sie zum Schluß. Was hieß: wann ich denn endgültig auszöge. Vorläufig nicht, sagte ich. Ich genoß es, das kritische Wort vom letzten Mal zu wiederholen. Na ja, sie müßten darüber nachdenken, sagten die Leute und gingen ohne Händedruck zum Gartentor. Baranskis fettes Gesicht wurde dunkelrot, als ich es rundweg ablehnte, ihm für den Fall, daß ich einmal nicht da wäre, einen Schlüssel zu geben.«Unmöglich», zischte er unter der Tür,«schließlich ist es kein ganz unbelastetes Haus, vergessen Sie das nicht.»Das hätte er nicht sagen sollen. Ich knallte die Tür zu. Das Problem ist, daß man Baranski damit noch nicht draußen hat. Sein widerliches Rasierwasser hängt überall. Das war schon neulich so.
Vom Gefühl her wußte ich es sofort, im Kopf dauerte es eine Weile, bis ich darauf kam: Pacos Worte am Telefon waren wie die Worte in Vaters erstem Brief gewesen. Ein Staccato der Enttäuschung und des verzweifelten, einsamen Vorwurfs. Ich holte Vaters zweiten Brief hervor. Mein Sohn, ich kann Dir die Mitteilung machen, daß ich den berühmten Musikwettbewerb von Monaco, Concours d’opéra contemporain, gewonnen habe. Ich hatte meine letzte Oper eingeschickt. (MICHAEL KOHLHAAS heißt sie.) Und stell Dir vor: Anders als sonst haben sie die Partitur nicht zurückgeschickt. Sie werden sie drucken und mein Werk im Herbst aufführen. In der Oper von Monte Carlo (Salle Garnier). Das wollte ich Dir sagen. Dein
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