Der Klavierstimmer
kommt mir vor, als recke Paco den Kopf der Hand entgegen. Dabei weiß ich genau, daß es nie so ist.
Nein, dachte ich damals im Inca de Oro , so einfach ist es mit dem Verschwinden nicht. Plötzlich hatte ich Angst vor dem Abschied von Paco, der mir am Abend bevorstand. Wie es gewesen sei, als er von Inca de Oro, der ehemaligen Goldgräberstadt in der Wüste des Nordens, nach Santiago zog, fragte ich Juan, den Besitzer des Lokals, mit dem mich eine wortkarge Kameradschaft verbindet. Als ob sein Abschied und der meine sich vergleichen ließen! Na ja, der gelbe Sand habe ihm gefehlt, er fehle ihm heute noch, sagte Juan.
Paco kam gerade vom Abendessen, als ich den Klinikflur betrat. Wie immer, wenn er mich sieht, hellte sich sein Blick auf. Ich kenne jede Nuance dieses Aufhellens. Die letzten Schritte auf mich zu tat er nur zögernd, den Blick fest auf mein Gesicht gerichtet. Sein Blick wurde dunkler; er spürte, daß etwas nicht stimmte. Ich erklärte ihm, daß ich verreisen müsse. Schon nach den ersten Worten wandte er den Blick von mir ab. Ich kannte diese Reaktion. Es ist dann nicht so, daß er etwas anderes anblickt. Vielmehr geht sein Blick insgesamt verloren, es ist, als würde er nach innen in eine verschlossene, unzugängliche Tiefe gesogen, und es bleiben zwei blicklose Augen zurück. Der Junge versinkt dann gewissermaßen in sich selbst, fast möchte man sagen: Er ertrinkt in sich selbst. Es ist der erschütterndste Ausdruck von Enttäuschung, den ich kenne. Mühsam und zögernd hatte er sich jemandem zugewandt, ihm Vertrauen entgegengebracht. Und nun ließ ihn dieser Mensch im Stich.
Ich ging in die Hocke, so daß mein Gesicht auf der Höhe des seinen war. Plötzlich schlug er mir die Faust mitten ins Gesicht, und ich kippte nach hinten. Eine Sekunde lang, vielleicht sogar weniger, streifte er mich mit einem verlassenen, verzweifelten Blick. Dann drehte er sich um und ging mit seinem eckigen Gang den Flur entlang. Die ganze Zeit über schlug er mit den Fingerknöcheln gegen die Zähne. Es ist eine Bewegung, die er immer macht, wenn er erregt ist. Als er fast am Ende des düsteren Klinikflurs angekommen war, blieb er vor seinem Zimmer stehen. Gegen alle Erfahrung hoffte ich, er würde den Kopf in meine Richtung wenden. Er tat es nicht. Nach einer Weile trat er mit dem Fuß gegen die angelehnte Tür und verschwand mit einer wütenden Bewegung im Zimmer.
Ich ging ins Reisebüro und kaufte auch einen Rückflug.
Ich hasse dieses transatlantische Telefonieren, bei dem man, weil die Worte mit Verzögerung ankommen, ständig aneinander vorbeiredet und es nur eine Frage der besseren Nerven ist, wer von beiden sich verständlich machen kann. Bevor ich gestern nacht die Nummer der Kinderpsychiatrie in Santiago wählte, dachte ich daran, daß Paco nicht mehr so aussieht, wie ich ihn in Erinnerung habe. Bereits als ich in Santiago abflog, trug er einen blutroten Turban. Kurz bevor ich an Bord gehen mußte, hatte ich in der Klinik angerufen. Mercedes war nicht da, und so erzählte mir Teresa, die andere Schwester auf der Station, was geschehen war: Noch am Abend zuvor hatte Paco eine Schere beschafft und sich in selbstzerstörerischer Wut die Haare abgeschnitten, bis nur noch Stoppeln übrig waren. In dem Bemühen, sie möglichst kurz zu schneiden, hatte er sich an vielen Stellen die Kopfhaut verletzt. Vielleicht war es auch Absicht, meinte Teresa. Jedenfalls blutete er stark, und nun trug er einen Turban aus Verbandszeug, durch den immer wieder Blut sickerte. In den ersten Stunden nach dem Start war ich verstört und konnte nichts essen. Ich sah Paco vor mir, wie er wütend gegen die Tür getreten hatte, ich sah das Erlöschen seines Blicks und spürte in der Hand das Haar, das es nicht mehr gab. Das Bild vom blutenden Turban verfolgte mich. Abschütteln konnte ich es erst, als es draußen dämmerte und wir in das Licht des neuen Tages hineinflogen. Nach Europa. Am Flughafen in Frankfurt und dann noch einmal in Berlin dachte ich daran, Mercedes anzurufen und nach Pacos Zustand zu fragen. Ich tat es nicht. Der Turban hatte im Licht des anderen Kontinents etwas von seiner Wirklichkeit verloren. Das tat weh.
In der Nacht nach der Beerdigung, als uns das Haus so unerträglich leer und still vorkam, habe ich schließlich angerufen. Pacos Wunden seien verheilt, sagte Mercedes, das Haar könne nachwachsen. Rote Dinge rühre er nicht mehr an. Ihre Worte klangen spröde, und in dem Satz über die roten Dinge schien mir
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