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Der Klavierstimmer

Der Klavierstimmer

Titel: Der Klavierstimmer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Pascal Mercier
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Vater.
    Ich hatte den Brief in der Nacht vor der Abreise aus Santiago aufgemacht. Zuvor hatte ich lange im Dunkel gesessen und ab und zu an die Nase gefaßt, die mir von Pacos Schlag weh tat. Es war wie ein langer innerer Anlauf gewesen, und ich weiß noch genau, daß ich fest an die Lehne meines Rohrstuhls faßte, als wollte ich mich meiner chilenischen Gegenwart versichern, die verhindern sollte, daß ich von all dem, was nun käme, weggespült würde.
    Ich mußte die Briefe öffnen. Jetzt ließ es sich nicht mehr umgehen. Ich mußte die Schublade endlich herausziehen. All die Jahre über hatte ich sie jeweils nur einen Spaltbreit geöffnet, um die Briefe hineinzuschieben. Danach war sie wieder unter der gehäkelten Decke verschwunden, die auf der Kommode liegt. Die spießige und inzwischen schmuddlige Decke ist mir stets ein Dorn im Auge gewesen. Aber sie hat mir geholfen, nicht an die Briefe zu denken, und so blieb sie, wo sie war. Jetzt schlug ich sie zurück und zog die Schublade weit heraus.
    Daß es so viele Briefe sein könnten, hatte ich nicht gedacht. Ich zählte und ordnete sie nach Datum. Es waren achtundsiebzig Briefe, zwei von Vater, der Rest von Maman. Vaters ersten Brief hatte ich geöffnet, als er kam, den zweiten von Ende Januar dieses Jahres hatte ich nicht mehr zu lesen gewagt. Jetzt machte ich ihn auf.
    Ich wußte nicht, was schlimmer war: daß ich auf diesen Brief nicht reagiert hatte, oder auf den ersten. Für einen Augenblick glaubte ich, an meinem Versäumnis zu ersticken. Heute weiß ich, wie sehr beides Vater getroffen hat. Später, im Flugzeug, legte ich mir Sätze zurecht, die ehrlich waren und ihm trotzdem bedeuten sollten, wie leid es mir nachträglich tat, daß ich es nötig gehabt hatte, mich so weit zu verschließen. Auf dem Weg zum Gefängnis rekapitulierte ich diese Sätze. Als er dann durch das Tor in die Freiheit hinaustrat, waren die vorbereiteten Sätze wie ausgelöscht.
    Ich las den Brief stets von neuem. Sie hatten die Partitur nicht zurückgeschickt, und sie würden sie drucken. Dieses ganz besondere sie - es hatte aus Vaters Mund immer einen beklemmenden Klang gehabt. Es bezeichnete eine fremde Macht, einen unsichtbaren, unbelangbaren Gerichtshof, von dessen Gnaden er abhängig war und von dem er für seine Entscheidungen keine Begründung erwarten durfte. Wie sehr hat ihm die Wirklichkeit recht gegeben!
    Auch Vaters ersten Brief las ich in jener Nacht noch oft. Ich hoffe, Du wirst dort Erfolg haben , hatte er geschrieben. Man durfte sich von dem konventionellen Klang der Formulierung nicht täuschen lassen. Er meinte nicht Geld und Glamour. Er wünschte mir, daß ich von den Menschen, denen ich in dem neuen Land begegnete, anerkannt und geliebt würde; daß sie mich in dem, was ich bin, erkannten. Er wünschte mir nicht weniger, als daß ich das erleben konnte, was ihm versagt geblieben war. Und er wünschte es mir, obgleich ich ohne ein Wort geflohen war. Es war nicht einfach ein freundlicher Wunsch, den er mir mit auf den Weg gab. Es war das schlechterdings Wichtigste, das er mir zu wünschen und zu sagen hatte.
    Und doch haßte ich den Satz wegen jenes Worts, das alles Unheil in sich barg: ERFOLG. Es war das Wort, vor dem ich geflohen war und das ich nie mehr hören wollte. Was immer es sein mochte, das Vater ins Gefängnis gebracht hatte - der Gedanke an den Erfolg hatte dabei die Hand im Spiel gehabt, dessen war ich mir sicher.
    Vaters lakonische Sätze schnürten mir die Kehle zu. Und dann dachte ich: Was hast du ihnen für einen Antwortbrief geschrieben? Wer hat dir geholfen? Ich sah mich neben dir stehen, Vater, wenn du mit einem Brief zu mir gekommen warst, damit ich dir beim Formulieren helfe. Dann warst du das Heimkind und ich der Lehrer eines Behinderten. Zwar habe ich dich sehr geliebt in solchen Augenblicken, aber es war auch schrecklich, dich in deiner Unbeholfenheit zu erleben und zu sehen, wie du im Zeitlupentempo die Buchstaben deiner stets kindlich gebliebenen Handschrift aufmaltest. Ich erlebte noch einmal dein ehrliches, neidloses Staunen über Formulierungen, die du für besonders geglückt hieltest, wobei sich eine rührende Neigung zum Kitsch zeigte, die mir als Warnung galt, nach einem anderen Ausdruck zu suchen, einem spröderen, über den du enttäuscht warst, so daß sich ein sanfter Kampf entwickelte. Denn ein Urteil in der Auswahl meiner Formulierungen, das nahmst du dann doch für dich in Anspruch, mit einem Ausdruck von spöttischem Stolz

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