Der Klavierstimmer
Mißachtung in diesem Wippen! Auch drehte sie sich kein einziges Mal um. Es gibt das natürlich, daß man einen guten Freund auf diese Weise abholt. Man hat seine Wohnung schon oft gesehen, es ist eine Verabredung, ein Abholen wie Dutzende von Malen zuvor. Aber beim ersten Treffen: Was für ein Desinteresse am anderen! Erst auf der Fahrt habe ich verstanden: Sie hatte, als sie vor mein Haus trat, der Versuchung nicht widerstehen können, der Musik und den rhythmischen Anweisungen aus einer Ballettschule zuzuhören, die gegenüber aus einem Fernseher kamen. Das ist auch später hin und wieder geschehen: Sie blieb dann wie hypnotisiert stehen, schloß die Augen und faßte sich ins Haar. Daß sie an jenem Morgen vor meinem Haus mit dem Abschied von ihrer Ballettzukunft kämpfte, um dann Hunderte von Kilometern zu fahren, nur um die Stimme desjenigen zu hören, der ihr diese Zukunft genommen hatte: Das konnte ich natürlich nicht wissen.
Es war eine verrückte Situation: Trotz der Einladung zu dieser Fahrt und der Gespräche über Oper war mein Abschied neulich wie der Abschied eines Handwerkers gewesen und nicht wie der Abschied eines Freundes, mit dem man sich auf eine Reise begibt. Und nun sollten wir uns als Reisegefährten treffen. Unzählige Male habe ich mich später gefragt, ob sie an jenem Morgen, während ihres wippenden Wartens, bereits entschlossen war, den Dingen die Wendung zu geben, die sie dann nahmen. Sie danach zu fragen habe ich mich nie getraut. Du weißt ja, wie schwer es ist, mit ihr über ihre Gedanken zu sprechen. »
Papa blätterte in Mamans Brief.«Und nun steht hier dieser Satz, dieser wunderbare Satz: Als ich vor Deinem Haus mit der schrecklich gelben Fassade wartete, war ich sicher: Du warst der richtige Gefährte, der mir helfen würde, diese gefährliche Reise heil zu überstehen. »Papas Blick blieb an dem Briefbogen hängen. Seine Lippen bewegten sich vor und zurück wie immer, wenn ihn etwas beschäftigte.«Sie fügt hinzu: Du mit Deinen sicheren Händen. »Wieder verging Zeit, bevor er sich entschloß weiterzusprechen.
«Wir haben in den fast sechsundzwanzig Jahren mit keinem Wort darüber geredet, aber von den zahllosen Malen, wo ich ihren verstohlenen Blick auf meinen Händen sah, weiß ich, daß sie meine groben Hände mit den legendären, feinen Händen des Italieners verglich. Wenn sie den Eindruck hatte, ich könnte sie bei ihrem Blick ertappt haben, und wir saßen beieinander, legte sie ihre Hände rasch auf meine - eine entschuldigende Zärtlichkeit, die den Blick und auch den Gedanken dahinter ungeschehen machen sollte. Es war, wie wenn sie gesagt hätte: Ich mag dich trotzdem. Ich war froh, wenn ich die Hände danach wieder frei hatte, und im Laufe der Zeit wurde ich gut darin, geradezu virtuos, ihre Geste vorauszuahnen und meine Hände in Sicherheit zu bringen.
Ungeschickt sind sie eigentlich nicht, meine Hände; aber langsam. Ich bin ja ein guter Klavierbauer geworden, einer, auf den man sich in der Werkstatt verlassen konnte, und auch beim Stimmen schickte der alte Chopard mich, wenn es um einen besonders schwierigen Kunden ging, wo nichts schiefgehen durfte. Das absolute Gehör und meine langsamen, verläßlichen Hände, sie machten mich zum ersten Stimmer in Genf und Lausanne, ja eigentlich in der ganzen welschen Schweiz. Ich habe viele reiche Häuser von innen gesehen. Patrizierhäuser. Viel feinen Tee aus teurem Porzellan getrunken, das ein Dienstmädchen hinstellte. Und oft genug kamen am Ende die Herrin oder der Herr des Hauses, manchmal auch die blasierte Tochter, die darauf warteten, daß ich die Klavierbank räumte. Sie setzten sich mit einem bedeutsamen Schwung an den Flügel: So, jetzt ist es aber Zeit, daß sich wieder Hände mit den Tasten beschäftigen, die etwas von Musik verstehen, begabte Hände, nicht die Hände eines Handwerkers. Ich konnte ihnen ja nicht sagen, daß ich soviel Musik in mir hörte, wie sie in ihrem gesamten Leben nicht in sich hören würden. Statt dessen verabschiedete ich mich mit meiner Werkzeugtasche wie ein Installateur, nur mit sauberen Händen.
‹Bonjour ›, sagte ich an jenem Morgen vor dem Haus und dachte: Es klingt ganz anders als neulich bei meinem Besuch als Klavierstimmer. Fast, als sei es ein anderes Wort. Es hat mich irritiert, daß Du nicht Auto fahren konntest, schreibt sie, aber gefallen haben mir Deine einfachen Worte: Ich gehe gern. Ich glaube, ich hatte es nicht lernen wollen, weil Pierre ja auch nicht mehr
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