Der Klavierstimmer
fahren konnte. Es war eine Art, ihm nahe zu sein. Zu meinen Kunden bin ich mit dem Zug gefahren, manchmal mit dem Postbus. Und ich bin immer gerne gegangen, die Werkzeugtasche in der Hand, die mir Pierre und Sophie am ersten Tag meiner Lehre geschenkt hatten. Ich brauchte doppelt so viele Stunden wie andere, um das Auto fahren schließlich zu lernen, und du weißt, wie ich fahre.
Es war sonderbar: Chantal fuhr fahrig und sicher zugleich. Ich dachte an die ruhige, biedere Art, mit der Sophie gefahren war, eine Art, die sie sich angewöhnt hatte, um Pierre neben sich jeden unnötigen Schreck zu ersparen. Chantal trug beim Fahren gelbe Lederhandschuhe. ‹Senffarben›, sagte ich versuchsweise, und sie lachte bestätigend, es war das erste Mal, daß ich den hellen Klang ihres Lachens hörte. Ihre schlanken Hände waren stets in Bewegung. Die rechte Hand spielte auch dann mit dem Ganghebel, wenn man für mein laienhaftes Gefühl nicht ans Schalten denken mußte. Die linke änderte unablässig die Stellung am Steuer. Es wirkte alles unstet. Am Anfang hatte ich deshalb beim Überholen und in den Kurven Angst. Doch bei der Auffahrt zum St. Bernard sah ich, wie sicher und genau sie die Kurven fuhr, und sie schaltete so gekonnt, daß es ein ununterbrochenes Fließen war, nicht die Spur eines Rucks, wenn der neue Gang griff.»Papa schluckte.«Es war ja nicht nur das Ballett, was mit dem verfluchten Unfall zu Ende ging.
Wir sprachen wenig. Viel haben wir ja nie miteinander geredet. Das hat mir gefallen. Es ist anstrengend, die eigenen Gedanken mit anderen zu teilen.»Er lachte sein rauhes Lachen.«Vielleicht sogar unmöglich, wer weiß. Und vor allem: unnötig.
Das eine, was ich noch weiß, ist, daß ich sagte, wie sehr ich den Genfer See liebte. Und wie sie mit dieser unglaublichen Verzögerung, die uns alle immer wieder zur Verzweiflung getrieben hat, antwortete, ja, sie auch, und sie sei sich nicht sicher, was sie mehr liebe, den See oder das Meer. Meine Bemerkung war etwa bei Vevey gefallen, ihre nicht vor Montreux. Und das war typisch: Ich sprach vom See, sie sogleich vom Meer.
‹Frédéric›, sagte sie unvermittelt, irgendwo im Aostatal, ‹ich werde Sie einfach Frédéric nennen; darf ich?› Und natürlich war das keine echte Frage. Es war schön, wie sie den Namen aussprach. Die hellen Laute. Hell und vornehm.
Sie fuhr durch Mailand, als ob sie dort zu Hause sei. Es war unglaublich. Das Hotel lag nur wenige Gassen von der Scala entfernt. Kein moderner Kasten; ein altes Hotel mit Baldachin, Parkett und Plüsch. Patina, schon damals ein Lieblingswort von ihr. Was ich noch lebhaft vor mir sehe: wie sie mich anweist, das Gepäck im Auto zu lassen, und wie sie dann mit schläfriger Eleganz an die Réception tritt. Die Frau hinter der Theke kannte sie nicht, so daß Chantal spitz ihren Namen sagte, um dann ungehalten zu fragen, ob Monsieur René nicht da sei. Der Mann erschien und begrüßte sie überschwenglich. Ein ziemlicher Schleimscheißer, wenn du mich fragst. Mich musterte er mit einem abschätzigen Blick, um dann nach Monsieur de Perrin zu fragen. ‹Comme d’habitude› , sagte er, als er ihr die Schlüssel für die beiden Zimmer überreichte.
Die Zimmer hatten eine Verbindungstür. Ich kann seither keine solche Tür sehen, ohne daran zu denken, wie Chantal sie mit leisem Quietschen öffnete und sich in ihrem Négligé aus Satin durch den Spalt in mein Zimmer schob. Doch vorher geschah noch vieles, es war der längste Abend meines Lebens.
Wir gingen essen. Sie mochte meinen blauen Anzug nicht, ich glaube, sie fand ihn unmöglich, denn das war das erste, was ich in Genf mit ihr einkaufen ging: ein paar Anzüge. Um ehrlich zu sein: Ich habe mich in der blauen Kluft auch nie wohl gefühlt. Dabei war ich stolz darauf. Ich habe das Ding maßschneidern lassen, mit Weste. Vom ersten Lohn, der dabei vollständig draufging. Pierre nämlich trug nur maßgeschneiderte Anzüge. Dann sei er sicher, gut auszusehen. Blinde, denkt man, sind nicht eitel. Aber es ist so gut wie alles falsch, was man über Blinde denkt. Was mich beeindruckte: daß da ein Schneider kam, der sich ausschließlich mit mir beschäftigte. Soviel Aufmerksamkeit nur für mich. Vorher die Auswahl des Stoffs. Tuch nannten sie es. Vornehmer Klang, man denkt an Handel, große Ballen. Überhaupt der Wortschatz, den sie mir, dem wohlhabenden Kunden gegenüber benutzten. Allerdings hatte ich den Eindruck, daß sie mir das Ganze nicht glaubten. Ich benahm
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