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Der Klavierstimmer

Der Klavierstimmer

Titel: Der Klavierstimmer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Pascal Mercier
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mich viel zu unbeholfen. Wie der Bub vom Lande. Der ich ja auch bin. Wenn man von der Musik absieht. So betrachtet war ihr Getue dann auch wieder der blanke Hohn.»Papa faßte an die Jacke des braunen Anzugs.«Dieser hier ist von der Stange und war bald ausgeleiert. Darin geht es mir gut.
    Ob sie Antonio di Malfitano schon einmal auf der Bühne gesehen habe, fragte ich Chantal beim Essen. Stell dir vor! Ganz plötzlich entschuldigte sie sich und verschwand. Sie war einsilbig, was ihn betraf. Ich erzählte, was ich über ihn gelesen hatte. Er müsse ein ziemlicher Frauenheld sein, sagte ich. Später erzählte ich die Geschichte über seine erste, dreimonatige Ehe, die ich in einer Illustrierten gelesen hatte. Sie schwieg. Ob ich Näheres über diese erste Frau wisse, fragte sie einmal. Es war da etwas. Aber am Tisch bin ich noch nicht drauf gekommen. Wer denkt schon an so was!
    ‹Sie tragen keinen Ring›, sagte sie beim Kaffee. Da lernte ich diese Angewohnheit von ihr kennen: eine Feststellung zu treffen und darauf zu warten, daß man Auskunft gibt. Als sei ihr das Fragen zu anstrengend. Es ist ein bißchen wie hofhalten: Die anderen können froh sein, daß sie ihnen zuhört. ‹Continuez!› Das sagte sie immer wieder, wenn ich in meiner Lebensgeschichte eine Pause machte. Wieder war es wie hofhalten: Sie erlaubte dem Vasallen zu erzählen. Erst später, als ich dem alten de Perrin begegnete, verstand ich, daß sie es von ihm, der es mit herrischer Jovialität sagte, einfach übernommen hatte, wahrscheinlich, ohne je darüber nachzudenken.
    ‹Vos parents?› Was hätte ich sagen sollen? Daß Henri ein Taschendieb und Säufer gewesen war, der im Gefängnis starb? Hätte ich das sagen sollen, während ich neben dieser atemberaubenden Frau saß, ihre brillantbesetzte Uhr aus Platin vor Augen, die eleganteste, die ich jemals gesehen hatte? Also erfand ich den erfolgreichen Filou, der zwar Frau und Kind hatte sitzenlassen, aber eine Karriere gemacht hatte. Eine Karriere wie Henri Delarue, der zwei Jahre ältere Junge aus dem Heim, ein Großmaul, der mit fünfzehn über Nacht ein Mädchen mit ins Heim brachte und damit durchkam. Ging nach Chile und wurde dort Börsenmakler, er hatte schon als Zehnjähriger angefangen, mit den verrücktesten Sachen zu handeln, und wußte über Zinsen und dergleichen alles. Ich habe ihn bewundert, beneidet und manchmal auch gehaßt wegen seiner Großmannssucht. Er log wie gedruckt, dreister noch als ich, nur wußte das Gygax nicht. Ja, den machte ich während jenes Essens in Mailand zu meinem Vater. Für Chantal und später auch für euch.»
    Erinnerst du dich an das Foto, das Papa uns als Kindern zeigte? Es war das Foto von einem angeblichen Henri, der nach Chile ging, um sein Glück zu versuchen, und alles erreichte, was man sich wünschen konnte: die eigene Plantage, das herrschaftliche Haus, das riesige Schwimmbassin. Er stand da, das eine Bein nonchalant auf der Balustrade der Terrasse, mit der Hand kraulte er einer Dogge den Kopf. Glaubhaft war diese Geschichte ja eigentlich nie: Warum, wenn er Odile schon schrieb und sein Foto schickte, hatte er ihr nicht etwas von seinem Reichtum zukommen lassen? Wenigstens etwas für seinen Sohn? Außerdem war diese Idee von Erfolg nicht deine, Papa, darum ist es dir nie gegangen. Aber was solltest du machen angesichts einer diamantbesetzten Uhr aus Platin?
    «Zu Odile dagegen stand ich, das war auch leichter, weil sie Opfer war und nicht hatte wählen können, wie sie ihr Geld verdiente. Und dann war sie ja vor allem die Mutter, die früh starb. Was mich störte, war, daß Chantal nicht mehr zuzuhören schien, als ich vom Unterschied zwischen der ersten und der zweiten Klasse im Bahnhofsbuffet sprach.
    Vom Komponieren sagte ich bei diesem Essen nichts. Mehrmals war ich nahe dran, doch dann schien es mir irgendwie zu... zu gefährlich. Das kam erst am nächsten Morgen in der Galleria.
    Daß sie für den Italiener schwärmte, und das nicht nur aus der Distanz, wurde mir klar, als Cavaradossi die Bühne betrat und Recondita armonia …! sang. Chantal benahm sich wie jemand, der alles um sich herum vergißt. Sie beugte sich weit nach vorn, verschränkte die Hände, daß sie weiß wurden, und klebte mit dem Blick förmlich an ihm. Und so blieb es die ganze Zeit über. Einmal legte sie ihre Hand auf meine, aber es war ein pures Versehen, sie wollte sich an der Sessellehne festhalten. Verglichen mit dem Saal der Scala war das Grand Théâtre in Genf

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