Der Klavierstimmer
sie bedeutet, daß Chantal sich in diesem Augenblick aus allem herausfallen läßt. Sie ist gewissermaßen nicht mehr da, übernimmt vorerst für nichts mehr die Verantwortung und verlangt, ganz in Ruhe gelassen zu werden, gleichgültig, wie die Erde sich gerade dreht. In der Geste mischen sich Schmerz und Selbstschutz, aber auch Selbstverliebtheit. Und ganz sicher bin ich nach mehr als fünfundzwanzig Jahren immer noch nicht, wieviel Schauspielerei dabei ist.
Damals jedenfalls war ich wie verzaubert von der Geste und dem Blick, und es dauerte, bis ich mich loszureißen vermochte und den Flügel entdeckte, der am anderen Ende des langen Raums stand.
‹Ist das der Flügel?› fragte ich. Sie hatte immer noch kein Wort gesprochen.
‹Kennen Sie ihn?› Ihre Stimme klang verträumt und gleichzeitig erloschen.
‹Sie meinen, ob ich Steinway-Flügel kenne? Ja, sicher.›
‹Nein, nein. Ich meine, ob Sie den Tenor kennen. Den, der gerade singt.›>
Das war das erste Mal, daß ich sie in ihrer charmanten, wenn auch aberwitzigen Erwartung erlebte, daß die anderen jederzeit wüßten, wo sie mit ihren Gedanken gerade war.
‹Ja. Es ist Antonio di Malfitano›, sagte ich. ‹Ich meine: Gesehen habe ich ihn noch nie; aber ich erkenne seine Stimme.›
‹Verstehen Sie auch sonst etwas von Oper?›
Ich nickte, und während der nächsten Stunden gelang es mir nur mit Mühe, den Flügel zu stimmen, soviel redeten wir über Opern und Sänger. Zwischendurch unterbrach sie das Gespräch manchmal abrupt und ging zum Terrassenfenster. Die Stiefel knallten leise auf dem Parkett, und dann stand sie dort und sah regungslos hinaus. Sie sei Balletteuse, sagte sie unvermittelt und malte mit dem Finger eine unsichtbare Figur auf die Glasscheibe. Eigentlich hätte sie in jenem Moment bereits in der Vergangenheitsform sprechen müssen. Da wußte sie nämlich schon, daß sie schwanger war.»
Papa hielt den Blick für eine Weile auf den Brief gesenkt, bevor er mich anblickte.
«Hat sie es euch erzählt?»
Ich nickte.
Er fuhr mit dem Finger die Zeilen des Briefs entlang, bis er die Stelle hatte. Als Du kamst, wußte ich es seit elf Tagen, schreibt sie. Auch heute noch weiß sie es auf den Tag genau. Damals aber sprach sie über das Tanzen, als sei nichts geschehen. Sie lehnte sich auf den Flügelrand und verfolgte meine Bewegungen. Inzwischen hatte sie die Jacke ausgezogen und war nun ganz in Schwarz, mit einem derben Rollkragenpullover. Das dunkelblonde Haar und die Kette aus mattem Gold sahen aus wie auf einem Gemälde, besonders wenn man das Spiegelbild im aufgestellten Flügeldeckel betrachtete. In der Gegenwart dieser Frau war es, als bade man in Eleganz. Nach Pierres Wohnung war es das zweite Mal, daß ein Wendepunkt in meinem Leben von einer Erfahrung besonderer Eleganz begleitet wurde, einer Eleganz, die sich mit Musik mischte. Doch Chantals Eleganz ließ die Eleganz von Pierres Wohnzimmer blaß erscheinen.
Mir war bald klar, daß sie mit der Oper besondere, persönliche Empfindungen und Erinnerungen verband und daß sie mich als Zuhörer brauchte, dem sie in versteckter Form davon erzählen konnte. Oft lenkte sie das Gespräch zurück auf Antonio di Malfitano. Das geschah mit der angespannten Beiläufigkeit, die in unserer Stimme ist, wenn wir eine Leidenschaft zu verbergen suchen und doch auch den widersprechenden Wunsch haben, sie kundzutun. Di Malfitanos Gesang, das spürte ich, mußte eine Rolle gespielt haben in einer Liebe, welche diese Frau mit sich herumtrug. Das Gespräch über den italienischen Tenor, dachte ich auf dem Heimweg, war eigentlich ein Gespräch über einen ganz anderen Mann gewesen, denn die Wahrheit, die konnte ich da natürlich noch nicht ahnen. Im übrigen war ich noch nie mit einer solchen Frau zusammengewesen und war wie betrunken von ihrer Gegenwart.
‹Wissen Sie, wer Désirée Artôt war?› fragte sie unvermittelt.
‹Eine Sopranistin›, sagte ich. ‹Vorübergehend die Verlobte von Tschaikowsky. Heiratete den spanischen Bariton Mariano de Padilla y Ramos. Tschaikowsky war erleichtert.› Wie glücklich war ich in jenem Moment über mein Wissen! Es war, als hätte ich es nur erworben, um diese Prüfung bestehen zu können.
Chantal sah mich mit großen Augen an. ‹Wissen Sie alles so genau?›
‹Nur wenn es um Musik geht, vor allem Oper›, sagte ich.
‹Désirée Aslanischwili. Sagt Ihnen der Name etwas?›
Es dauerte mindestens eine Minute, bis ich den Kopf schüttelte, und man muß
Weitere Kostenlose Bücher