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Der Klavierstimmer

Der Klavierstimmer

Titel: Der Klavierstimmer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Pascal Mercier
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mir die Verzweiflung angesehen haben, denn Chantal begann zu lächeln. Es war ihr erstes Lächeln, und es besiegelte meine Gefühle für sie.
    ‹Braucht er auch nicht›, sagte sie. ‹Das ist die Welt des Balletts. Sie war meine Großmutter, eine berühmte russische Tänzerin. Eigentlich hieß sie Elena. Sie wurde das Opfer von Rheuma. › Sie zeigte auf das Bild von Clara. ‹Das war ihre Tochter, meine Mutter.›
    Da hatte ich noch keine Ahnung, wie wichtig dieses Gesicht für mich einmal werden würde.
    ‹Wissen Sie, was er auf die Frage sagte, welche Musik ihm am meisten bedeute?› fragte sie einmal, als sie wieder an der Terrassentür stand und mir den Rücken zuwandte.
    Inzwischen war ich es gewohnt, daß sie immer wieder, ohne jede Ankündigung, auf den Italiener zurückkam.
    ‹Diejenige Musik, die uns auf die Stille vorbereitet› , sagte ich. Es hatte einige Tage zuvor in der Zeitschrift gestanden, die als Titelbild seine Hände mit den berühmten Siegelringen gebracht hatte.
    ‹Ach, Sie haben es auch gelesen? Ist es nicht wunderbar?› Es klang, als kämpfe sie mit den Tränen, aber ich war nicht sicher, denn sie hatte es in meine wiederholten Akkorde hineingesprochen.
    Am Ende stand ich ihr gegenüber, die Werkzeugtasche in der Hand. Sie reagierte nicht auf meine ausgestreckte Hand, sondern spielte mit der vordersten Strähne ihres Haares, den Blick auf die Stiefelspitzen gesenkt.
    ‹Würden Sie am Samstag mit mir nach Mailand in die Scala fahren, um ihn in Tosca zu hören? Ich meine Antonio … di Malfitano. ›
    Ich bilde mir ein, einen Augenblick gestutzt zu haben, weil sie seinen Nachnamen mit Verzögerung nannte, so wie man es tut, wenn man einem Fremden gegenüber von jemandem spricht und nicht gleich daran denkt, daß der andere von der Nähe in dieser Beziehung nichts weiß. Aber meine Verwunderung wurde von der Überraschung über ihr Angebot sofort weggewischt. Ich habe keine Erinnerung an das, was ich sagte. Ich sehe nur, wie sie mich anblickte, immer noch das Haar zwischen den Fingern, und mir die praktischen Einzelheiten unserer Reise erklärte. »
    Papa dachte nach und fuhr dabei mit dem Handrücken sanft über die Blätter von Mamans Brief.«Es gab an diesem Erklären etwas, das mir noch nie begegnet war. Es lag Bestimmtheit darin. Nicht die Bestimmtheit einer Lehrerin. Auch nicht die Bestimmtheit meiner Mutter, die manchmal - besonders wenn es ein schlechter Tag gewesen war - den Befehlston aus dem Bahnhofsbuffet (dem Buffet der zweiten Klasse) mit nach Hause brachte. Chantals Bestimmtheit hatte etwas Sanftes. Etwas Verführerisches. Ich erlebte damals zum erstenmal ihre betörende Fähigkeit, mit wenigen Worten Nähe herzustellen. Und das mit einer Entschiedenheit, gegen die es keine Verteidigung gab. Nicht, daß mir nach Abwehr gewesen wäre, im Gegenteil. Aber als ich nachher wie betäubt in meiner Wohnung saß, war mir unheimlich bei dem Gedanken, daß ich keine Chance gehabt hätte, nein zu sagen. Nein sagen: Das war meine Spezialität. Im Heim war ich zum Partisanenkämpfer geworden. Mit Worten. Oder der Verweigerung von Worten. Und nun war diese unglaublich elegante Frau aufgetaucht und hatte mich matt gesetzt. In einem Spiel, dessen Regeln ich nicht kannte. Natürlich hatte es vor ihr Frauen gegeben, wenn auch nicht wie Sand am Meer. Aber das hier war etwas ganz anderes.
    Wir fuhren nach Mailand. In ihrem Auto und über den Grand St. Bernard. Ich hatte mein kleines Appartement aufgeräumt und lange gelüftet, um den muffigen Geruch, der in der alten Tapete saß, loszuwerden.»Papa maß das elegante Arbeitszimmer, das nicht mehr seines zu sein schien, mit den Augen aus.«Manchmal habe ich ihn hier drinnen vermißt, diesen muffigen Geruch.
    Es klingelte, und ich eilte zur Wohnungstür. Niemand. Erst mit Verzögerung begriff ich, daß sie an der Haustür geklingelt hatte, die tagsüber offenstand, so daß niemand auf die Idee kam, er müsse klingeln, um ins Haus zu kommen. Ich blickte zum Fenster hinaus, und da sah ich sie auf dem Trottoir stehen, mit dem Rücken zum Haus, ungeduldig wippend, die Hände in den Taschen einer Jacke, die wiederum eine ungewöhnliche Farbe hatte. (‹Auberginefarben›, sagte sie. Für sie müssen die Farben ausgefallen sein; nicht aufdringlich, aber besonders. Quelle couleur triviale! Hörst du sie? Il porte les couleurs triviales - das war die härteste Kritik an Georges, die ich von ihr gehört habe.) Es lag - dachte ich in jenem Moment - soviel

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