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Der Klavierstimmer

Der Klavierstimmer

Titel: Der Klavierstimmer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Pascal Mercier
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sie enthielten.
    «Weißt du, was ich mir wünsche?»fragte sie, als ich die Türklinke in der Hand hielt.
    Ich wartete.
    «Ich möchte Frédéric noch einmal drüben am Schreibtisch sitzen sehen. Vor einem Bogen Notenpapier. Nur ein einziges Mal noch.»
    «Ja, Maman», sagte ich.
    Dann schloß ich die Tür.

Patricia
    FÜNFTES HEFT
    ICH MÖGE DIE POLSTERTÜR nicht schließen, bat Papa, als ich ihm Mamans Abschiedsbrief gegeben hatte. Er muß ihn stets von neuem gelesen haben. Ab und zu hörte ich ihn weinen. Es war das erste Mal, und noch nie hat mich ein Weinen so sehr erschüttert wie dieses Weinen eines Mannes, der sich die Tränen ein Leben lang verboten hatte. Am Anfang war es ein stoßweises, trockenes Schluchzen, das mit rauhem Klang eine Abwehr durchbrach. Später wurden die Geräusche regelmäßiger und sanfter, man konnte hören, wie Papa sich immer bereitwilliger ergab. Ich hatte dasein wollen, wenn er mich brauchte. Als die Tränen schließlich versiegten und es still blieb, ging ich hinein.
    Das Weinen hatte sein Gesicht verändert. Trotz und Bitterkeit waren aus seinen Zügen verschwunden. Jetzt war es ein sanftes, verletzliches Gesicht, das nichts mehr wollte. Ein Stoß von Mamans hellbeigen Briefbogen lag in seiner Hand. Er saß im Sessel und nicht am Schreibtisch. Ich glaube, er hat sich kein einziges Mal mehr an den Schreibtisch gesetzt. Das leere Notenpapier lag da, als gehörte es einem anderen. Hin und wieder warf er einen Blick hinüber wie jemand, der neugierig ist auf den Arbeitsplatz eines berühmten Mannes aus vergangener Zeit. Er nahm Abschied von sich selbst. Als habe er geahnt, daß das Herz ihn im Laufe der Nacht im Stich lassen würde.
    Er fuhr sich mit dem groben braunen Jackenärmel übers Gesicht, als er mich bemerkte. Langsam, als komme es aus weiter Ferne, erschien ein Lächeln auf seinen Zügen. Er deutete auf den Brief.«Sie glaubt, es sei Recondita armonia di bellezze diverse! gewesen, was er sang, als wir uns zum erstenmal gegen überstanden. In Wirklichkeit war es Qual occhio al mondo può star di paro all’ardente occhio tuo nero? Ich weiß es genau, weil ich auf die Farbe ihrer Augen achtete und mich fragte, ob es ein Graublau oder ein Graugrün sei. Sie verwechselt die beiden Arien, weil sie die andere über alles liebt. Sie hält sie für die schönste Arie der Operngeschichte.»
    Als er von Maman in der Gegenwartsform zu sprechen begann, dachte ich zunächst, es sei wie bei Maman, als sie vom Unfall in Bern sprach und di Malfitano wie einen Lebenden behandelte. Erst nach einiger Zeit merkte ich, daß es anders zu verstehen war. Papa verleugnete nichts. Er hörte, wie die Verfasserin des Briefes zu ihm sprach, und in diesem Sinne war sie ihm ganz gegenwärtig. Ich weiß nicht, woran es lag, aber je länger er sprach, desto mehr dachte auch ich an sie als eine Lebendige.
    «Wenn ich an die erste Begegnung im Hause de Perrin denke», begann er,«sehe ich zunächst den hochgestellten Kragen ihrer Jacke und darüber das goldene Haar. Der Wind hatte es zerzaust, und die Nachmittagssonne ließ es aufleuchten. Die lange und taillierte Jacke betonte das Knabenhafte des Körpers. Sie hatte eine ungewöhnliche Farbe. ‹Wie naßgelber Sand›, sagte Chantal später einmal. Sie stand in Stiefeln auf glänzendem Parkett vor den hohen französischen Fenstern des Salons, durch die sie gerade hereingekommen sein mußte. Die Hände in den Jackentaschen, blickte sie auf den Teppich von buntem Herbstlaub hinaus, der den Kiesweg bedeckte. Ihre schlanke Gestalt strahlte eine derartige Eleganz aus, daß ich ungewöhnlich lange brauchte, bevor ich die Musik erkannte, die den Salon ausfüllte. Es war, wie gesagt, Cavaradossi, der Toscas schwarze Augen besang.
    ‹Bonjour› , sagte ich, nachdem das Dienstmädchen die Tür hinter mir geschlossen hatte.
    Chantal drehte sich um, sah mich abwesend an und sagte nichts. Ich muß etwas gesagt haben wie ‹Ich bin der Klavierstimmer, ich wurde bestellt, um einen Flügel zu stimmen; einen Steinway›. Da sah ich an ihr zum erstenmal jene Geste, die ich später über alles lieben sollte, obwohl sie mich oft genug fast zum Wahnsinn trieb: Sie faßte ins Haar, ergriff eine Strähne und hielt sie so unbeweglich fest, als habe sie ihre Hand vollständig vergessen. Dabei nahmen ihre Augen einen traurigen, seelenvollen Ausdruck an, und die Lippen öffneten sich ein bißchen wie in einem großen Staunen. Zur Verzweiflung kann einen diese Haltung treiben, weil

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