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Der Klavierstimmer

Der Klavierstimmer

Titel: Der Klavierstimmer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Pascal Mercier
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um den Mund, dem schwer zu widerstehen war. Es waren sehr intime Momente, Vater, schön und fürchterlich.
    Monaco, dachte ich. Du in Monaco. In Monte Carlo. Von so etwas hast du all die Jahre geträumt, ich weiß. Aber es paßt nicht zu dir. Es gibt nichts, was noch weniger zu dir paßt als die glitzernde Welt der Côte d’Azur. Michael Kohlhaas dagegen: Kein anderer Stoff paßt besser zu dir als dieser. Du wirst dich in der Figur des Roßhändlers aus Kohlhaasenbrück wiedererkannt haben, und in der Vertonung seines erbitterten, erfolglosen Kampfes um sein Recht fandest du eine Möglichkeit, deinem eigenen Kampf um Anerkennung Ausdruck zu verleihen. Deine Verletzungen und Demütigungen, deine Bitterkeit und deinen ganzen Haß, der sich hinter dem angeblich hochmütigen Lächeln verbirgt, hast du in Form von Arien in die Welt hinausgeschrien. Es muß ein unbeschreiblicher Triumph für dich sein, daß just diese Oper preisgekrönt wurde.
    Das war es, was ich in jener letzten Nacht in Santiago dachte. Ich konnte lange nicht einschlafen, und den Rest der Nacht war ich träumend damit beschäftigt, mich gegen eine hoffnungslose Übermacht von Vorwürfen zu verteidigen.
    Am Morgen, auf dem Weg zum Flughafen, ließ ich das Taxi vor einer Buchhandlung halten und kaufte Kleists Novelle auf spanisch. Vor Jahren hatte ich sie schon einmal gelesen. Ich mußte sie wieder lesen. Jetzt gleich. Noch im Warteraum begann ich damit. Als der Flug aufgerufen wurde, steckte ich das Buch in die Tasche zu Mamans Briefen, die immer noch ungeöffnet waren. Dann betrat ich die Maschine.

Patricia
    ERSTES HEFT
    I CH HABE DEN KOFFER abgestellt und die Tür zugemacht. Im Mantel bin ich langsam durch die kalten Räume gegangen, ein Fremdling in der eigenen Wohnung. Später habe ich am Fenster auf die Dämmerung gewartet und gehofft, durch sie in die Gegenwart dieser Wohnung und dieser Stadt zurückzufinden. Das Telefon hat geklingelt. Ich habe nicht abgenommen. Es wäre zu früh, Stéphane zu sehen. Und von den Filmleuten will ich im Moment noch nichts wissen. Erst will ich beginnen, unseren Pakt des Erzählens zu erfüllen.
    Dein Bericht wird wortgewandter sein als der meine. Die Worte kommen dir schneller als mir, und es sind mehr Worte. So war es immer. Zufall ist es nicht. Auch nicht eine Sache der Begabung. Du mußtest all die Sätze vollenden, die Maman unfertig ließ. Das hat sie von dir erwartet. Oft kam es mir vor, als gäbe es einen unausgesprochenen Vertrag zwischen euch: Du sprachst ihre angefangenen Sätze zu Ende; dafür galt dir ihre besondere Liebe. Es war die erste große Aufgabe, die dir gestellt wurde. Du hast sie bravourös gelöst, immer von neuem. Darüber bist du zum Sprachkünstler geworden. Auf die Idee, daß Mamans Sätze nur in deiner Gegenwart unvollständig blieben, kamst du nicht. Es war eine geniale Art, dich zu verführen. Ob es aus Berechnung geschah oder nicht - ich weiß es nicht. Bei Maman war das schwierig zu wissen, schwieriger als bei anderen Menschen.
    Am liebsten würde ich dir eine Folge von Bildern vorführen, die dich zeigen, wie ich dich sehe, und die uns zusammen zeigen, wie ich glaube, daß wir waren. Denn etwas habe ich durch dich (wenngleich nicht von dir) gelernt: Worten zu mißtrauen, auch wenn sie genau sind und überzeugend und sanft, wie es deine Worte so oft sind. Am liebsten hätte ich es, daß du meinen inneren Bildern, wie sie auf der Leinwand erscheinen, ausgeliefert wärest, wehrlos in völliger Stummheit, so daß du verstündest, wie es mir mit dir ergangen ist in den fünfundzwanzig Jahren. Da das nicht möglich ist und du durch unser Abkommen im Vorteil bist, bitte ich dich, meine Worte so auf dich wirken zu lassen, wie ich wünschte, daß meine Bilder auf dich wirken würden. Ich bitte dich, sie ohne Gegenwehr in dich aufzunehmen und sie nicht zu behandeln wie Züge in einem Spiel, in dem du mir überlegen bist. Meine Worte mögen in dich hineinfallen wie in einen stillen Teich, sie mögen Kreise ziehen und Wellen werfen, und ich möchte, daß du diesem Geschehen alle Freiheit einräumst sich zu entfalten; daß du nicht nur äußerlich, sondern auch im Inneren mit deiner Antwort wartest, bis die Wirkungen sich ausgesponnen haben und du wirklich verstanden hast, was ich sage. Wirst du das tun, Patrice? Für mich tun? Wirst du ein Mal, ein einziges Mal, den Schutzschild deiner Wortgewandtheit beiseite schieben, um dich treffen und, wo es unvermeidlich ist, auch verletzen zu lassen?

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