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Der Klavierstimmer

Der Klavierstimmer

Titel: Der Klavierstimmer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Pascal Mercier
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bei, ihre Zerstreutheit hatte in den letzten Jahren noch zugenommen, manchmal war es, als sei sie im Inneren ganz zerklüftet. An diesem Tag nahm ich Paris Match aus dem Briefkasten. Di Malfitano sei in Paris, stand in der Klatschkolumne, wie üblich im Ritz . Gegen ihre Gewohnheit rief Chantal nicht an und kam zwei Tage früher als geplant zurück. Ob Nijinskis Briefe etwas hergäben, fragte ich. ‹Wie? Die Briefe, ach so, ja›, sagte sie nur. Ein paar Tage später brachte ich ihre Jacke in die Reinigung. Die Bedienung griff gewohnheitsmäßig in die Taschen und fischte einen Kassenbon heraus. Er stammte aus der Bar des Ritz . Wie gesagt, manchmal war das Wissen nicht leicht.»
    Nein, er wußte nichts von dem, was Maman dir erzählt hatte. Er würde bis zuletzt glauben können, daß die Jury sich für seine Oper entschieden hatte und daß sie es getan hatte, weil sie das Werk für das beste hielt. Es war ja auch völlig unmöglich für ihn, von der Erpressung zu erfahren, sagte ich mir nachher. Trotzdem hatte ich den Atem angehalten. Jetzt atmete ich aus.
    «Als ich Anfang Juli las, daß nichts aus der Aufführung meiner Oper würde, weil der Italiener die Gelder unterschlagen hatte, geschah etwas mit dem Namen ANTONIO DI MALFITANO. Ich sprach mir den Namen immer wieder vor. Sein Klang hatte sich geändert. Ursprünglich war es ein Name mit großem Klang gewesen, ein Name wie eine Melodie. Wie oft hatte ich mir vorgestellt, der Name stünde auf einem Plakat, das eine Oper von mir ankündigte! Der Name hatte zu den allerersten Worten gehört, die Chantal und ich wechselten. Dann war er zum Namen geworden, den der Vater meiner Kinder trug. Später war es der Name des Mannes, der an der Unfallstelle in Bern gewesen war. Der Name, der genügte, damit Chantal vom Fernsehen aufstand. Der Name desjenigen, dem ich die Schuld an eurer Flucht gab. Auch der Mann, dem Chantal in Monte Carlo und Paris nachgelaufen war, hieß so. Jetzt, die Zeitschrift vor mir, hörte ich den einst geliebten Namen nur noch als eine bombastische Wortfassade mit nichts dahinter. Der Name eines unverschämten Großmauls. Eines Betrügers. Ein Name voller Hohn. Der Name eines Feindes.
    Und eines Tages dann hing das Plakat an der Litfaßsäule vor unserem Haus. Dort, wo ihr früher das Kinoprogramm studiert habt. Es war am 10. August, siebenundzwanzig Tage nach dem Jahrestag eurer Flucht. Ich entdeckte es, als ich von der Arbeit kam. Zunächst fiel mir nur die dunkelrote Farbe auf. Sie ist ja meine Lieblingsfarbe. Sie ist es seit dem Abend, als Sophie mich in die Oper mitnahm. Überall die roten Sitze und der rote Samt! Den weißen Buchstaben auf dem Plakat schenkte ich keine Beachtung. Es war mir nicht danach, berühmte Namen auf Plakaten zu sehen. Ich hatte schon die Hand auf der Klinke des Gartentors, da spürte ich, daß der eine Name auf dem Plakat trotzdem zu mir durchgedrungen war. Ich zuckte zusammen wie unter einem elektrischen Schlag, als mir klarwurde, wessen Name es war. Ich wollte es nicht wahrhaben und machte das Gartentor auf. Doch der Name ließ mich nicht los. Er hatte sich festgesetzt und begann mich zu vergiften. Ich ging zurück und las: ANTONIO DI MALFITANO, TENOR. Ich war wie hypnotisiert und starrte den Namen an, wer weiß wie lange. Es wurde mir heiß wie im Fieber und schwindlig wie bei einem Schwächeanfall. Nur mühsam gelang es mir schließlich, das ganze Plakat zu lesen. Es ging um ein Gastspiel, das die Musiker der Mailänder Scala in der Staatsoper geben würden. Aufgeführt wurde Tosca . Der Italiener sang die Rolle des Cavaradossi, Claire Taillard war Tosca. Ende Oktober würde es drei Vorstellungen an aufeinanderfolgenden Tagen geben.»
    Papa schwieg eine Weile und starrte mit leerem Blick auf seine Hände. Hast du auch bemerkt, wie übersät mit Altersflecken sie waren? Als ich die Flecke betrachtete, hatte ich das Gefühl, erst jetzt ganz zu begreifen, wie lang die vergangenen sechs Jahre gewesen waren. Dann wieder war ich mir nicht sicher, ob es die dunklen Stellen auf seinem Handrücken nicht auch früher schon gegeben hatte, und diese kleine, unbedeutende Unsicherheit weitete sich zu dem erschreckenden Eindruck, über Papa nichts zu wissen, nie etwas gewußt zu haben. Ab und zu schloß er nun für einige Sekunden die Augen. Es mochte sein, daß er noch einmal die Empfindungen durchlebte, die ihn vor dem Plakat überflutet hatten. Oder er holte unhörbar Atem, um von der Entstehung seines blutigen Plans zu

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