Der Klavierstimmer
berichten.
«Ich habe keine Ahnung, wie lange ich vor dem Plakat stand», fuhr er schließlich fort.«Das nächste, woran ich mich erinnere, ist, daß Chantal mir im Entrée entgegenkam. Sie hinkte stärker als sonst, und am Kinn hatte sie einen Bluterguß, der Puder vermochte ihn nicht ganz zu verdecken. ‹Du hast es gesehen, nicht wahr?› sagte sie einfach. Dann erzählte sie von ihrem Sturz.
An diesem Abend erhob sie sich mit einemmal aus dem Sessel, setzte sich neben mich aufs Sofa und lehnte den Kopf an meine Schulter. Es war viele Jahre her, daß sie das getan hatte. Früher war es stets die Einleitung gewesen, wenn sie mir etwas Schwieriges zu sagen hatte, das uns beide betraf. Ich pflegte dann ihre Hände in die meinen zu nehmen und einige Augenblicke verstreichen zu lassen, bevor ich fragte: ‹Ja?› Auch jetzt nahm ich ihre Hände und hielt sie fest, bis das Zittern nachließ. Dann geschah etwas Sonderbares: Ohne daß ich nachdenken mußte, wußte ich plötzlich, was sie mir sagen würde.
‹Ja?› fragte ich.
‹Du weißt es, nicht wahr?› sagte sie leise.
‹Ja›, sagte ich, ‹es sind nicht meine Kinder.›
Ihre Hände begannen von neuem zu zittern.
‹Wie hast du es herausgefunden?›
‹Der Arzt damals. Ich habe gerechnet.›
‹Und es hat dir nichts ausgemacht?›
‹Nein›, sagte ich.
‹Warum?›
‹Ich weiß nicht. So war es eben.›
Sie schreibt hier: Das waren die schönsten Worte, die Du jemals zu mir gesagt hast.
Sie rückte noch näher zu mir. Das Zittern ihrer Hände war wiedergekommen und ließ sich nicht mehr besänftigen. ‹Weißt du auch den Rest?›
‹Ja›, sagte ich, ‹ich weiß auch den Rest: Der wirkliche Vater ist Antonio di Malfitano.›
Jetzt nahm Chantal meine Hände in die ihren.
‹Und nun hat er auch noch dich betrogen›, sagte sie.
Bei diesem Satz wurde ihre Stimme dunkel und rauh. So hatte sie noch nie geklungen. Es war, als habe Chantal eine innere Grenze überschritten. Dahinter wurden Dinge möglich, die bisher undenkbar gewesen waren.
In jener Nacht habe ich kein Auge zugetan. Als Chantal schließlich Schlaf gefunden hatte, ging ich ins Wohnzimmer und blickte hinaus zu der Litfaßsäule. Es mußte weg, das Plakat. Weg . Ich holte aus dem Keller die Leiter und aus der Küche das große Fleischermesser. Ein Plakat zu entfernen ist schwieriger, als man denkt. Ich erwischte immer nur kleine Streifen, und dazu kam, daß ich bei jedem Einstich die dicke Schicht früherer Plakate mit aufriß. Es war gegen vier Uhr, als ich begann, und als ich schließlich wieder am Fenster stand und auf die Fläche von aufgerissenem, zerfetztem Papier blickte, dämmerte es bereits. Ein einziger Mensch war vorbeigekommen, ein älterer Mann mit schwankendem Gang. Er war kurz stehengeblieben, hatte aber bald wieder mit seinem Gleichgewicht zu tun gehabt und war weitergegangen.
Ich ging ins Arbeitszimmer und setzte mich vor das leere Notenpapier. Seit dem zweiten Brief aus Monaco hatte ich keine einzige Note mehr geschrieben. Ich hörte nichts mehr. Im Inneren war nichts als dumpfe Stille. Immer wieder dachte ich an Pierre und Sophie, die mir die Musik geschenkt hatten. Es nützte nichts. Auch Platten hören ging nicht mehr; nach wenigen Takten stellte ich ab. Wenn im Geschäft jemand spielte, um ein Klavier auszuprobieren, ging ich in den Nebenraum und hielt mir die Ohren zu. Schlimm war, wenn sie oben in dem Raum spielten, den wir als Übungsraum vermieten. Sie hatten mir die Musik weggenommen. Der Italiener hatte sie in mir zerstört. Und mit der Musik die Zukunft. Denn das war die Musik für mich gewesen, seit Pierre das erste Mal ins Heim gekommen war: Zukunft. Etwas, was es für mich vorher nicht gegeben hatte.
Statt zu komponieren saß ich am Schreibtisch und dachte daran, was für ein Unglück dieser Mann über Chantal gebracht hatte. Wenn sie auf den Stock gestützt hereinkam oder wenn ich das Geräusch des Stocks irgendwo im Hause hörte, zog sich vor Wut und Schmerz alles in mir zusammen. Der Haß auf den Italiener wuchs und wuchs. Mit jedem Tag mehr erschien es mir unerträglich, daß er sollte weiterleben können wie bisher, während wir durch ihn zu Menschen ohne Zukunft geworden waren. Und eines Abends, als ich Chantal nach einem besonders heftigen Schmerzanfall zu Bett gebracht hatte und sah, wie gequält, zerbrechlich und ohne Hoffnung sie in den Kissen lag, dachte ich das erste Mal daran, diesen Mann zu töten.
Darüber, wie der Plan sich in mir
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