Der Klavierstimmer
entwickelte, kann ich dir nicht viel sagen; ich weiß selbst nur wenig. Wochenlang hatte mich ein einziger Gedanke ausgefüllt: wie man den Italiener zur Rechenschaft ziehen könnte. Und nun würde dieser Mann hier auftreten und sich feiern lassen, als sei nichts gewesen. Ich konnte nicht verstehen, daß er noch irgendwo auftreten konnte. Ich kann es immer noch nicht verstehen. Ich begreife nicht, daß es Leute gab, die sich für seinen Betrug einfach nicht interessierten ; daß seine Stimme mehr wog als seine Tat.»
Unvermittelt faßte sich Papa mit beiden Händen ans Herz, senkte den Kopf und biß sich auf die Lippen, wie um dem plötzlichen Schmerz besser Widerstand leisten zu können. Als es vorbei war, standen ihm winzige Schweißperlen auf der Stirn, und das Blut kehrte nur langsam in das weiße Gesicht zurück.
«Wir haben viel geschwiegen. In der Erinnerung ist es, als hätten wir uns tagelang ohne Unterbrechung schweigend gegenübergesessen. Zu Beginn war es nicht mehr als ein Schweigen, in dem jeder seinen Gedanken nachhing. Doch während eines gemeinsamen Schweigens kann viel geschehen, das weiß ich jetzt. Ein Schweigen, das ist etwas, was sich entwickelt. Die Schweigenden können darin riesige Strecken zurücklegen, man würde es nicht glauben. Man kann sich dabei so sehr aufeinander zubewegen, daß sich die Gedanken und Gefühle am Ende berühren. Keine Lücke mehr, verstehst du, überhaupt keine.»
Wie erschütternd war es, Papa von dieser Entdeckung sprechen zu hören! Er, der keine Ahnung hatte, wie schwer es für dich und mich war, von dieser kostbaren Erfahrung loszukommen!
«Die Zeit, die verstrich, bis aus dem Gedanken ein Vorsatz geworden war, ist in meiner Erinnerung untermalt mit dem Surren eines Ventilators. Den ganzen August über lag brütende Hitze über Berlin. Man hinterließ Spuren, wenn man am Mexikoplatz über den weichen Asphalt ging. Auch nachts blieb es heiß. Im Geschäft herrschte Flaute, und Liebermann war im Urlaub, so daß ich das Büro für mich allein hatte. Stundenlang saß ich dort neben dem Ventilator, ordnete meine Gedanken und versuchte, mit mir ins reine zu kommen. Dabei wurde ich von einem Gefühl getrieben, das ich nicht besser beschreiben kann als so: Ich suchte nach dem Anfang. Wovon es der Anfang sein sollte, hätte ich nicht sagen können. Als aber schließlich das Bild der beiden Polizisten in mir aufstieg, wußte ich, daß ich ihn gefunden hatte, diesen Anfang.
Es waren die Polizisten, die den Unfall von Pierre und Sophie meldeten. Sie waren von ausgesuchter Höflichkeit. Un accident mortel, Monsieur, nous sommes désolés. Sie behandelten mich wie einen Sohn aus vornehmem Hause. Ganz anders die Leute von der Bank und der Gerichtsvollzieher, Monsieur l’huissier. HUISSIER - es ist das widerwärtigste Wort, das ich im Laufe meines ganzen Lebens kennengelernt habe. Bis dahin hatte ich gedacht, es sei GYGAX, der Name des Heimleiters. Doch zwischen den beiden Wörtern gab es einen großen Unterschied: Über Gygax hatte ich gelernt, mich lustig zu machen, jedenfalls nach außen hin. Beim Gerichtsvollzieher ging das nicht. Er war ein Mann mit randloser Brille und scharfer Bügelfalte. Kein Unmensch, sogar ein bißchen bedauernswert an jenem Tag, denn er war erkältet und mußte andauernd niesen. Kein Unmensch, nein, aber auch kein Mensch. Ein Beamter. Wie ich erfuhr, hatten Pierre und Sophie enorme Schulden, die auf eine Bürgschaft zurückgingen, für die sie hatten einstehen müssen. Sie schuldeten der Bank immer noch viel Geld. Deshalb wurde nun das Mobiliar gepfändet. Monsieur l’huissier, er ging mit gänzlich unbeteiligter Miene durch die Räume, eine Akte in der Hand, in die er seine Schätzungen eintrug. Mit dem Abtransport werde man bis Ende des Monats warten, das Jugendamt werde sich meinetwegen mit dem Heim in Verbindung setzen. Zum Schluß verlangte er einen Satz Schlüssel.
Ich hatte gerade mit der Lehre in der Klavierwerkstatt des alten Chopard angefangen, als diese Dinge geschahen. Als ich wenige Tage später nach Hause kam, war der Flügel weg. Man sah nur noch die Druckstellen der Flügelfüße und den abgetretenen Teppich dort, wo die Klavierbank gestanden hatte. Mir fiel auf - das weiß ich auch nach mehr als vierzig Jahren noch -, wie unberührt der Teppich direkt unter dem Flügel aussah, er war dort in der Farbe etwas dunkler als der Rest und staubig. Wo Pierre vom Sessel aus zum Flügel gegangen war, gab es einen Pfad von
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