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Der Klavierstimmer

Der Klavierstimmer

Titel: Der Klavierstimmer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Pascal Mercier
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Fußabdrücken. Es war ein erstaunlich schmaler Pfad, Pierre hatte ein Raumempfinden von verblüffender Genauigkeit besessen. Die Leere, die durch das Fehlen des Flügels entstanden war, schien Pierres Geruch, der immer noch in der Wohnung hing, zu verstärken; beinahe war es, als wehre sich Pierre aus der Ferne gegen das, was geschah. Wenige Tage später stand ich mit einem Koffer voller Musikbücher wieder vor dem Heim. Nicole sorgte dafür, daß ich dort einstweilen wohnen konnte. Ich glaube kaum, daß jemand das verstehen kann: Als ich beschloß, den Italiener zu erschießen, da wollte ich mich auch für den Rausschmiß aus Pierres Wohnung rächen.
    Pierre und Sophie waren meine erste Chance im Leben gewesen, und nun war sie mir genommen worden. Ich spürte, wie sich ein unerhört fester, unerschütterlicher Wille in mir formte: Ich würde es allein schaffen. Ich würde Musik schreiben - große, bewegende Opern. Am Ende der Aufführung würde ich auf der Bühne stehen und von einer Sängerin umarmt werden. Der Applaus würde niemals enden.»
    Nie zuvor hatte ich Papa so ungeschützt von seinen Erfolgsträumen sprechen hören, und noch nie hatte er so deutlich erkennen lassen, daß sie der Sehnsucht des Waisenkinds nach Liebe entsprangen. Um seinen Mund zuckte es, und er schluckte krampfhaft.
    «Dieser Wille hat alle Rückschläge und Enttäuschungen überdauert. Auch wenn ich mich innerlich unter den Schlägen wand und krümmte - der Wille blieb ungebrochen. Bis die Sache mit dem Preis passierte und die Aufführung abgesagt wurde. Es war, als habe man mir den Atem weggenommen, mit einem Schlag alle Luft aus den Lungen gesaugt. Von da an hatte ich keine Kraft mehr, mein erfolgloses Leben vor mir herzutragen. Kraft hatte ich nur noch für etwas Negatives: di Malfitanos Leben, das Leben eures leiblichen Vaters, zu vernichten und damit die ganze Welt der Musik, sofern sie mich betraf, zu zerschlagen. Das war das letzte kleine Wegstück, auf das mein Wille noch ausgelegt war.»
    Er warf mir einen raschen Blick zu, einen Blick voller Scheu. Es war seine stumme Entschuldigung dafür, daß er unseren Vater hatte töten wollen.
    «Er würde im Adlon wohnen, sein Name erschien in der Werbung des Hotels. Zweimal bin ich nach der Arbeit hingefahren und habe in der Lobby gesessen. Ich habe mir vorgestellt, wie er herunterkäme und an mir vorbei durch die Halle ginge. Es wäre kinderleicht gewesen. Auch den Künstlereingang der Oper habe ich mir angesehen. Sehr lange hätte ich dort nicht unbemerkt stehen können, das Personal ist mißtrauisch. Aber das war ohnehin alles Unsinn. Dann wäre es ja Mord gewesen.»
    Zuerst glaubte ich mich verhört zu haben, so unwahrscheinlich hatten diese letzten Worte geklungen. Dann dachte ich, es könnte einer von Papas halsbrecherischen Scherzen sein. Doch sein Gesicht bewies, daß er es ernst gemeint hatte und daß er da keinen Widerspruch sah. Jetzt erst verstand ich: Worum es ihm gegangen war, war eine Tat, die im Innenraum der Oper zu geschehen hatte, ganz nahe an der Bühne, eine Episode, die, weil sie im Schutze der Opernhandlung - gleichsam als ihr Schatten - hatte verlaufen sollen, mit dem Libretto die fiktive Wirklichkeit allen Bühnengeschehens teilte, indem sie die ganze Macht der Gefühle offenbarte, ohne doch den anderen Innenraum, denjenigen der Phantasie, zu verlassen. Di Malfitanos Tod - es hätte genügt, daß er wie Cavaradossis Tod war: wirklich im Rahmen eines Dramas. Nicht irgendeines Dramas; es ging durchaus um Papas Leben. Aber er hat sein Leben, sein wirkliches Leben, ganz in der Phantasie gelebt. Das habe ich immer gewußt, und ich hätte ohne Zögern zugestimmt, wäre es von jemandem mit diesen Worten ausgedrückt worden. Doch daß es wirklich so war - das verstand ich erst, als Papa jene erstaunlichen Worte gesprochen hatte.
    «Ich brauchte mehrere Anläufe, bis ich die Theateragentur in Zehlendorf tatsächlich betrat. ‹Sie waren lange nicht mehr bei uns›, sagte Frau Gregorius. ‹Antonio di Malfitano. Mal sehen, darauf gibt es natürlich einen Run. Sicher soll es, wie immer, das Beste sein?› Nun ja, sagte ich, der erste Rang müsse es schon sein, aber wir seien dieses Mal eine ganze Gruppe, und unsere Freunde möchten den Kindern einmal zeigen, wie es im Orchestergraben zugehe, deshalb am besten ganz außen und einige der Plätze unbedingt in der ersten Reihe.
    Ich würde bei meinen unverschämten Lügen nicht einmal inwendig rot, pflegte Gygax zu sagen. Wie

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