Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Klavierstimmer

Der Klavierstimmer

Titel: Der Klavierstimmer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Pascal Mercier
Vom Netzwerk:
üblich hatte er keine Ahnung, aber lassen wir das.
    Jedenfalls war das hier etwas völlig anderes. Ich hatte das Gefühl, ich sei aus Glas und Frau Gregorius brauche nur hinzusehen, um meine Absicht zu erkennen. Für alle drei Aufführungen waren die vorderen Plätze im ersten Rang ausverkauft. ‹Man sieht auch von hinten noch gut›, sagte Frau Gregorius. Kinder nicht, wandte ich ein. Im zweiten Rang gab es noch seitliche Plätze, zwei sogar ganz vorn. Ich stellte mir Distanz und Winkel vor. Schließlich schüttelte ich stumm den Kopf. ‹Also nicht?› sagte Frau Gregorius, und in ihrer Stimme lag unüberhörbare Verwunderung sowie ein bißchen von dem Ärger, den man Querulanten gegenüber empfindet. In diesem Moment stand die Sache auf des Messers Schneide.»
    Papa wurde von einem heftigen Hustenanfall geschüttelt. Nachher lehnte er den Kopf zurück und schloß für eine Weile die Augen. Das ganze Gesicht war schweißbedeckt. Die ehemals vollen Wangen waren eingefallen, die breite Stirn und das spitze Kinn bildeten ein Dreieck, das auf dem Kopf stand, das Kinn, auf dem es früher nur ein einziges Grübchen gegeben hatte, war zerfurcht, als habe jemand Kerben hineingeschnitten, um über etwas Buch zu führen, der Schnurrbart war wirr und verdeckte die Nasenlöcher, ich fragte mich, wie er noch atmen konnte. Jetzt richtete er sich auf und holte Tabak und Zigarettenpapier hervor.
    «Das hat mir einer von denen im Bau gegeben», sagte er, als er meinen erstaunten Blick sah.«Dafür habe ich ihm gezeigt, wie man so etwas versteckt, das lernt man im Heim.»Das Drehen ging wie der Blitz.«Das hat man in den Fingern», sagte er mit sonderbarem Stolz,«das vergißt man nie.»Nach dem ersten Zug setzte erneut ein Hustenanfall ein, offenbar begleitet von Herzschmerzen, denn wieder faßte Papa sich an die Brust. Von Hilfe wollte er nichts wissen, auf einmal hatte er es eilig, mit seiner Geschichte voranzukommen. Im Rückblick kommt es mir vor, als habe er gespürt, daß ihm nicht mehr viel Zeit blieb.
    «Frau Gregorius sah ratlos auf den Sitzplan der Oper. ‹Moment›, sagte sie plötzlich, ‹da war doch die Sache mit den Seitenlogen. Jürgen, kommst du mal?› Ja, sagte ihr Sohn, das sei richtig, es würden ausnahmsweise Karten für die Seitenlogen verkauft, sechs pro Loge. Frau Gregorius ließ sich das telefonisch bestätigen, erhielt aber gleichzeitig die Auskunft, die Karten seien schon alle weg. Botschafter mit Anhang. Ob nicht doch der zweite Rang?
    Ich ging nach Hause. Es sollte nicht sein. An einem der folgenden Tage telefonierte ich vom Geschäft aus mit der Scala und erkundigte mich nach dem nächsten Auftritt des Italieners. Erst im Frühjahr, wegen Umbauarbeiten. Ich ging ins Café am Steinplatz. Wie gereizt ich war, merkte ich erst, als ich die Kellnerin ohne jeden Grund anschnauzte. Es war nicht, weil sich der Plan nicht durchführen ließ. Es war, weil ich die Geschmacklosigkeit besessen hatte, ihn in Gedanken in die Scala zu verlegen. Ich spürte, wie der Haß mich zersetzte, die Säfte in mir begannen zu stinken, am Ende würde ich genauso schlecht sein, wie Gygax immer gesagt hatte. In der Scala - das wäre doch gewesen, als zerstörte ich nachträglich unsere Ehe. Auf dem Heimweg schämte ich mich so sehr, daß ich auf die andere Straßenseite wechselte, wenn mir jemand entgegenkam. ‹Du wirkst heute so klein›, sagte Chantal. Es ist ihr selten etwas entgangen, das Morphium machte sie hellsichtig.
    Eine Woche später, am Samstag vormittag, rief Frau Gregorius an. Für den Abend der zweiten Aufführung war die linke Seitenloge frei geworden, dem peruanischen Botschafter war etwas dazwischengekommen. ‹Jürgen hat seine Beziehungen spielen lassen. Weil Sie es sind.› Sie lachte. ‹Und wegen Ihrer Gattin, er hat eine ausgesprochene Schwäche für sie.›
    Ich weiß noch, daß es war, als verschwänden alle Gedanken aus meinem Kopf, für eine Weile konnte ich mich auf absolut nichts besinnen. Im Heim gab es einen Jungen, Marcel hieß er, dem geschah das andauernd, er war Epileptiker. Er versuche dann mit aller Kraft, anwesend zu sein, aber es wolle nicht gelingen, sagte er oft. So ähnlich war das damals am Telefon. Ob ich noch dran sei, fragte Frau Gregorius, jetzt schon eine Spur kühler. Ja, sagte ich, sie solle mir die Karten zurücklegen, ich würde sie abholen. Als ich auflegte, war es, als besiegelte ich etwas.
    Das heißt doch noch gar nichts, sagte ich mir den ganzen Abend und die ganze

Weitere Kostenlose Bücher