Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Klavierstimmer

Der Klavierstimmer

Titel: Der Klavierstimmer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Pascal Mercier
Vom Netzwerk:
Beamte bei der Einreise nach dem Zweck des Aufenthalts fragte (business or pleasure?) , sagte Papa: Yes.
    Während ich nach der Haltestelle für den Bus in die Stadt suchte, stand Papa nur staunend da und betrachtete die vielen Yellow Cabs. Er war so voller Staunen, daß er nicht merkte, wie er die Leute behinderte, die mit dem Gepäck durch die automatische Tür traten. Als ich ihn so stehen sah, hielt ich inne und merkte, wie ich stets von neuem dachte: Bière Cardinal .«Komm, wir nehmen eins von denen», sagte er nachher und hielt mir wie ein galanter Gentleman die gelbe Wagentür auf.
    Yellow Cab fahren - es war wie ein Rausch. Hunderte von Dollars haben wir auf diese Weise verpulvert. Papas bevorzugte Strecken: die Fifth Avenue und die Avenue of the Americas.«Ich kann mich beim besten Willen nicht entscheiden, welche mir besser gefällt», sagte er immer wieder. Wir sind diese Strekken zu jeder Tageszeit gefahren. Am liebsten aber fuhr er sie nach Mitternacht, das Gesicht an die Scheibe gedrückt und den Hals verrenkt, um in die Lichter der Wolkenkratzer hinaufzusehen. Auch wenn ich ihn in dieser Haltung sah, dachte ich: Bière Cardinal.
    Einmal stand er um vier Uhr nachts angezogen vor meiner Tür.«Komm», sagte er,«um diese Zeit haben wir es noch nicht gemacht.»Wir fuhren zwei Stunden durch Manhattan, und auf dieser Fahrt war es der weiße, aus den Schächten hochkochende Dampf, der Papa faszinierte. Dann frühstückten wir und erwarteten bei der Battery unten einen strahlenden Tag. Plötzlich umarmte er mich, hob mich hoch und hielt mich lange fest. Es war auf dieser Reise die zweite Umarmung voll von übermütiger Zärtlichkeit.
    Die erste war im Rockefeller Center am Morgen nach der Ankunft. Ich war überrascht gewesen, daß Papa die Met nicht schon am Abend zuvor hatte sehen wollen. Statt dessen hatte er mit dem Stadtplan am Fenster gestanden - zunächst in seinem Zimmer, dann in meinem auf der anderen Seite - und hatte mir aufgeregt die Namen der Gebäude und Straßen genannt, die er sah. Jetzt jedoch, an diesem ersten Morgen in New York, an dem aus einem hellgrauen Himmel winzige Schneeflocken fielen, wollte er zur Oper, die er immer mit vollem Namen aussprach: Metropolitan Opera . Auf dem Weg dahin kamen wir an der Eisbahn im Rockefeller Center vorbei. Und da geschah etwas, was mir wie ein Wunder vorkam und für mich den Höhepunkt der Reise darstellte: Papa vergaß die Oper.«Komm», sagte er und nahm mich wie die jüngere Schwester bei der Hand,«jetzt werde ich zum erstenmal in meinem Leben Schlittschuh laufen, Mutter konnte es sich nicht leisten, mir welche zu kaufen. »
    Papa mit eckigen Bewegungen auf dem New Yorker Eis, mit ausgestreckten Armen das Gleichgewicht suchend, die Kleider weiß vom vielen Umfallen: Ich kann nicht ohne Tränen daran zurückdenken. Du sahst aus wie Buster Keaton, Papa, und es war wunderbar, am Ende deine kalte, rauhe Haut an meiner Wange zu spüren.
    Nachher wollte er unbedingt ein Pastrami -Sandwich essen, denn dieses Wort war ihm noch nicht begegnet. Und da erzählte er mit vollem Mund vom Völkerball im Heim.
    «Binggeli hieß er, unser Sportlehrer, Ernst Binggeli, wir nannten ihn nur Aschi. Das haßte er, überhaupt haßte er seinen lächerlichen Namen, er sah sich nämlich als eleganten, stets braungebrannten Liebling der Frauen, ich bin sicher, er trat bei einem Rendez-vous unter anderem Namen auf. Im Völkerball war er gut. Aber nicht ganz so gut wie ich. Wenn man gewinnen will, muß man einen Wurf antäuschen können, um im allerletzten Moment die Richtung zu ändern, so daß die fangenden Hände im falschen Winkel zum heranfliegenden Ball stehen. Und das beherrschte ich besser als er. Außerdem machten harte Bälle meinen Händen weniger als seinen.
    Zu Beginn eines Spiels standen wir in verschiedenen Hälften des Feldes, das war eine stillschweigende Vereinbarung. Wenn wir den Ball bekamen, zielten wir auf andere, nicht aufeinander. Bis nur noch wir übrig waren. Dann wurde es auf dem Hof still, und wenn der Ball mit einem Knall vom Asphaltboden hochsprang, kam ein hartes Echo von den Wänden des Heims zurück, es hörte sich unheilvoll an. Wir fingen an. Vom Gefühl her ging es auf Leben und Tod, wie bei einem Duell. Die Würfe wurden immer härter, die Hände begannen zu brennen, der Atem ging lauter und schneller. Was Binggeli, Aschi Binggeli, jedesmal erneut fast um den Verstand brachte: daß dieser Bengel derart hart werfen und derart sicher fangen

Weitere Kostenlose Bücher