Der Klavierstimmer
das einzige, worauf sich sein Gefühl, das sonst Juanita gilt, richten kann. Und dieses Gefühl legt sich die Gestalt von Juanita nun so zurecht, wie Ramón sie gerne hätte - und läßt ihn glauben, daß sie auch in Wirklichkeit so ist. Er weiß es nicht, aber er genießt diese Freiheit des inneren Modellierens, und für die Zeit, in der die wirkliche Gestalt weg ist, richtet er sich in seinem Gefühl für die modellierte Figur ein, er ist erfahren darin, erfahrener als in manchen Gefühlen, die ihm von wirklichen Menschen abverlangt werden. Es geht ihm gut dabei: Er ist nicht allein, denn Juanita, wie er sie sich erfindet, ist ja bei ihm. Es ist ihre Abwesenheit, die ihm die vollkommene, ungetrübte Gemeinsamkeit gibt.
Er beginnt sich vor ihrer Rückkehr zu fürchten: vor der Kluft zwischen der wirklichen und der erfundenen Frau, die er wird aushalten müssen. Auf dem Weg zum Bahnhof fährt er langsam, immer langsamer. Die Zeiger an der großen Uhr gehen zu schnell. Juanita wird wieder in sein Gesichtsfeld eintreten, wird dieses stille Gesichtsfeld aufreißen. Es würde reichen, daß sie darin eine einzige Sekunde auftauchte: Genau derselbe Prozeß der Trennung müßte nachher von neuem ablaufen. Auf dem Weg zum Bahnsteig fragt er sich manchmal (um keinen Preis würde er es zugeben), wie es wäre, wenn sie nie wiederkäme; wenn er den Rest des Lebens ganz ungestört mit der modellierten Figur verbringen könnte. Würde Juanita verblassen und ihm schließlich ganz entgleiten?
Beim nächstenmal versucht Ramón, sich gegen den Schmerz des Abschieds zu wappnen, vor allem gegen den schrecklichen Augenblick, in dem sich das Gesichtsfeld ohne Juanita schlie ßen wird: Schon während sie langsam kleiner wird, richtet er es so ein, daß die modellierte Figur ihren Platz einnimmt. Beruhigt kann er ihr nun mit dem Blick folgen, denn sie kann ihm, weil sie kleiner und vager wird, nicht mehr widersprechen, nicht durch ihr Aussehen und vor allem nicht durch ihr Gesicht. Doch das Manöver erweist sich als Bumerang: Weil Juanita, wenn sie am Horizont anlangt, von der erfundenen Figur vollständig aufgesogen ist, erlebt Ramón ihr Verschwinden, als sei es das Verschwinden der modellierten Figur. Und das wäre die Katastrophe der Einsamkeit. Er geht deshalb dazu über, die erfundene Figur erst auf dem Heimweg aufsteigen zu lassen.
Wenn Juanita anruft: Sie könnte es nicht ausdrücken, aber sie merkt, daß er nicht allein ist und sie als das, was sie ist, nicht vermißt; daß er zufrieden ist mit der modellierten Figur an seiner Seite. Sie meint, aus seinem seltsamen Ton einen Vorwurf herauszuhören: daß sie weggegangen ist. Doch sie spürt auch, daß es vielleicht noch ein ganz anderer Vorwurf ist: daß sie nicht so ist wie die modellierte Figur.«Möchtest du, daß ich noch länger wegbleibe?»fragt sie einmal. Weil Ramón sich niemals eingestehen könnte, daß sie nicht die modellierte Figur ist, will er die Frage um jeden Preis so verstehen: ob er möchte, daß die wunschgemäße Figur wegbliebe. Das entsetzt ihn.«Wie kannst du so etwas fragen!»sagt er und nimmt ihr die Frage übel - weil sie nämlich zeigt, daß sie nicht die modellierte Figur ist, die würde das ja niemals fragen.«Ich meine ja nur», sagt Juanita. Jetzt weiß Ramón überhaupt nicht mehr, in welcher Stimmung er zum Bahnhof fahren soll.
Ich liebe die Erzählung, weil sie so genau ist. Und ich hasse sie, weil Mercedes mir das Bändchen brachte, nachdem ich ihr von dir und mir erzählt hatte. Ich habe nie ein Wort über den Text verloren. Der Autor gab kurz darauf eine Lesung, auf der er aus diesem Text vortrug, es hatte in der Zeitung einen Vorabdruck gegeben, und er war in aller Munde. Als ich meine Frage stellte, war ich so aufgeregt, daß ich im Spanischen Fehler machte, die mir seit Jahren nicht mehr passiert waren.«Ist es eine Kritik an Ramón, daß es ihm so geht, wie es ihm geht?»fragte ich.«Oder geht es allen immer so?»Der Autor steckte langsam eine Zigarette zwischen die Lippen und hielt die Flamme übertrieben lange an den Tabak.«Das wüßte ich auch gern», sagte er schließlich.
Damals auf dem Bahnhof, als ich an die Erzählung dachte, fühlte ich mich so einsam wie am ersten Tag in dieser Stadt. Die Idee, auf die ich nicht gekommen bin, keinen Moment lang: auf meine Ironie zu warten. Gibt es das: ein ironisches Verhältnis zur Einsamkeit?
Patricia
SECHSTES HEFT
F ritz Bärtschi heiße ich. Fritz Bärtschi. Mit ä, einem offenen ä.
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