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Der Klavierstimmer

Der Klavierstimmer

Titel: Der Klavierstimmer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Pascal Mercier
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konnte. In seiner Verzweiflung sprang er dann hoch wie ein Handballer vor dem Tor und schmetterte den Ball von oben auf mich herunter. Doch meine Hände waren genau dort, wo ich sie brauchte. Und ich entwickelte eine Technik, um mein kleineres Körpergewicht auszugleichen und meinem Wurf eine Wucht zu geben, die Binggelis Wucht in keiner Weise nachstand: Ich drehte mich mehrmals um die eigene Achse wie ein Hammerwerfer und ließ den Ball erst im letzten Moment los. Den leichten Schwindel, den die rasante Drehung verursachte, genoß ich, er floß mit der Wut und Verachtung zusammen, die ich für Binggeli, Aschi Binggeli und das ganze Heim empfand. Und fast immer erwischte ich Binggeli schließlich auf dem falschen Fuß. Als ich schon etwas älter war, sagte ich am Ende des Spiels: ‹Bis zum nächstenmal, Herr — Binggeli.› Zwischen den beiden letzten Worten machte ich eine lange Pause, als müsse ich mich auf seinen Namen besinnen. Die anderen kicherten. Binggeli, da bin ich sicher, hätte mich am liebsten umgebracht.»
    An der Lower East Side kamen wir an einem Abbruchgelände vorbei, auf dem Kinder Baseball spielten. Papa trat auf den Fänger mit dem großen Handschuh zu und sagte: «I, too.» Verblüfft gab ihm der Junge den Handschuh. Papa ging in die Hocke. Der Pitcher warf sanft; Papa fing. Der Pitcher legte mehr Wucht in den Wurf; Papa fing auch jetzt. Auch als Pitcher verblüffte Papa die Kinder. «I forget never!» lachte er und winkte zum Abschied. Ich war froh über die Sonne, die eine Lücke in der Wolkendecke gefunden hatte. Das Licht, das sich in dem herumliegenden Müll blitzend brach, überstrahlte die Verbissenheit, die in der Erzählung über Binggeli und den Völkerball gelegen hatte.
    In der Oper gab es Verdis Otello mit Antonio di Malfitano in der Titelrolle. Wir bekamen keine Karten. Trotzdem wollte Papa abends hingehen. Teure Wagen fuhren vor, einer nach dem anderen. Wir sahen Rod Steiger aus einem Bentley steigen und Woody Allen aus einem Taxi. Der Zugang zum Künstlereingang war von Polizei abgeriegelt.«Ich hätte ihn gern hineingehen sehen», sagte Papa, als wir nachher hoch über der Stadt in einer Bar saßen und in die Lichtschluchten Manhattans hinunterblickten. Und dann erzählte er von der Oper, die keine wurde.
    «Georges war daran schuld. ‹Daß es dir nicht wie Charles Bovary geht!› hatte er eines Abends vor der Hochzeit gesagt, als wir allein waren. Gut, er war angetrunken. Aber er hatte es gesagt. Als der Ärger nicht weggehen wollte, kaufte ich den Roman. Ich habe berühmte Bücher nie gemocht. Es gibt so viele davon. Und die Leute, die einen darauf hinweisen: Ihnen ist es wichtiger, belehrend darauf hinweisen zu können, als die Bücher gelesen zu haben und dadurch verändert worden zu sein. Es dauerte nicht lange, da wurde ich wütend auf Emma Bovary. Auf ihre Larmoyanz, ihre Bequemlichkeit und Feigheit. Und wie sie mit dem Kind umgeht!
    Der Gipfel ist die Szene, wo sie Hippolyte das Bein abnehmen müssen, weil Bovary an seinem Klumpfuß herumgesäbelt hat. Charles, der Ohnmacht nahe, sitzt da und hört den Schrei durch die Stadt hallen. Und sie weiß nichts Besseres zu tun, als sich in Gedanken über seine Mittelmäßigkeit zu beklagen. Auch ihr Name würde durch Charles’ Mißgriff besudelt! Ich kochte. Und da beschloß ich, eine Oper zu schreiben mit dem Titel: Monsieur Bovary . Die Ereignisse aus seiner Sicht. Natürlich: Er ist ein Trottel. Kauft Emma auch noch ein Pferd, damit sie mit Rodolphe ausreiten kann. Und bezahlt die angeblichen Klavierstunden, während derer sie sich mit Léon vergnügt. Aber er weiß, was das ist: jemanden gern haben. Davon hat sie keine Ahnung, keine blasse Ahnung. Verbringt ihre Zeit mit Tagträumen, die kitschiger nicht sein könnten. Das einzige, was sie leistet: Geld ausgeben. Sein Geld. Während er Tag für Tag, Nacht für Nacht Krankenbesuche macht. Gut, er ist kein brillanter Arzt, und er ist ein Spießer. Aber er steht zu seiner Frau. Er weiß, was das ist: zu jemandem stehen. Sie dagegen: Die anderen sind für sie nichts weiter als Spielzeuge, die man wegwirft, wenn man ihrer überdrüssig ist.
    So ist es auch, als sie in der Oper sitzt und Lucia di Lammermoor hört. Vor der Pause vergöttert sie den Tenor und sieht sich an seiner Seite von Blumenregen zu Blumenregen reisen. Wenn sie ihm wenigstens einmal begegnet wäre! Nach der Pause dann ist er plötzlich abgemeldet, weil inzwischen Léon aufgetaucht ist. So geht’s doch nun

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