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Der Klavierstimmer

Der Klavierstimmer

Titel: Der Klavierstimmer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Pascal Mercier
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Augen war unbeschreiblich. Abends im Hotel, als Papa in seinem Zimmer war, ging ich zum Empfang. Ja, diese New Yorker Straße werde Hausten ausgesprochen, nicht wie die texanische Stadt, sagten sie.
    Papa war immer zwei Stunden früher auf als ich, und wenn wir zusammen frühstückten, war es sein zweites Frühstück. Dazwischen ging er allein durch die Straßen. Wenn er von diesen Spaziergängen zurückkam, war sein Gesicht glatter als sonst und zehn Jahre jünger. Da wußte ich: Diese Stunden allein in der langsamen New Yorker Morgendämmerung waren für ihn das Schönste an der gesamten Reise. Ich war eifersüchtig auf seine Begabung fürs Alleinsein.
    Als ich ihn am sechsten Tag zum Frühstück abholte, streckte er mir einen Flugschein entgegen:«In zwei Stunden fliegen wir nach San Francisco!»Als ich ihn entgeistert ansah, sagte er:«Zwei Tage. Verrückt, ich weiß. Aber wenn wir jetzt schon hier sind. Plastic money! »
    Wir haben den Mietwagen kaum je verlassen, so sehr war Papa von den steilen Straßen und den immer neuen Ausblicken fasziniert. Dreimal über die Golden-Gate-Brücke nach Sausalito, dreimal auf die Twin Peaks: Das war das tägliche Minimum. Die meiste Zeit aber verbrachten wir auf der Geary Street, die quer über die Halbinsel zum Pazifik führt. Von dem Gefühl, auf den Pazifischen Ozean , wie er feierlich sagte, zuzufahren, konnte Papa nicht genug bekommen.«Dort vorne liegt Hawaii», sagte er.«Wenn wir jetzt immer weiterflögen, kämen wir auch nach Berlin.»
    Papa in Kalifornien: Verglichen damit kam es mir vor, als sei er in New York regelrecht zu Hause. «Hi, how are YOU today?» fragten sie uns. «I am going good», sagte Papa, «how is it with you?» Er verstand nicht, daß sie ihn erst so freundlich und so persönlich ansprachen, dann aber auf seine Gegenfrage keine Antwort gaben. Ich lachte. Er zögerte und lachte dann auch. Schließlich lachten wir beide darüber, daß er mit seinem Lachen gezögert hatte.
    «Wir hätten weiter nach Westen fliegen sollen», sagte er auf dem Rückflug nach New York. Es war ein Scherz, und es war keiner.«Die Schule», sagte ich, denn die Faschingsferien gingen zu Ende.«Ach, die Schule», sagte er.
    Zu Steinway in Queens gingen wir am letzten Tag. Sie waren erstaunt, daß Papa sich erst jetzt meldete, das Steinway-Haus in Berlin hatte ihn für früher angekündigt. «I was busy», sagte er, und als man auf weitere Erklärungen wartete, wiederholte er: «busy» . Sie führten uns durchs ganze Werk und zeigten Papa die technischen Neuerungen, derentwegen er hier war. Anschlie ßend gab es ein Essen mit der Geschäftsleitung. Sie überschütteten ihn mit Lob. In Berlin nur Frédéric Delacroix als Stimmer, keinen anderen: Das sagten alle Pianisten, mit denen sie es zu tun hätten. Deshalb jetzt die Frage: ob er sich vorstellen könnte, gewisse Pianisten auf ganzen Tourneen zu begleiten, rund um den Globus? Dieser Wunsch werde immer öfter geäußert. Es würde sich auch finanziell für ihn lohnen, fügten sie hinzu.
    Was jetzt kam, wird mir für immer unvergeßlich bleiben, und es ließ auch die Amerikaner in den dunkelblauen Blazern nicht unberührt. «I have a woman», sagte Papa, «and she has pains. So it is not possible. Not possible.»
    Am letzten Abend gingen wir ins Kino.«Ich weiß», sagte Papa,«ich werde nichts verstehen, aber das spielt keine Rolle.»
    Es war ein Film über einen jungen Lehrer, der in einer Schule der Bronx vergeblich versucht, gegen Gewalttätigkeit dadurch anzukämpfen, daß er die Schüler an sich bindet. Von dem vielen Slang verstand auch ich nur wenig.
    «Hast du gesehen, wie der eine schwarze Junge, der mit den feinen Gesichtszügen, um die Freundschaft des schlaksigen Weißen wirbt, der beim Basketball immer die Körbe macht?»fragte Papa, als wir in der Hotelbar noch etwas tranken. Langsam, Zentimeter für Zentimeter, drehte er das Whiskyglas in seinen großen Händen. Er drehte es sicher ein halbes dutzendmal ganz herum, bevor er weitersprach.«Ich habe das noch nie jemandem erzählt, noch nie. Es gab im Heim einen Jungen, um seine Freundschaft habe ich auch geworben. Reto hieß er, und seine Eltern, die bei einem Autounfall ums Leben kamen, waren Rätoromanen. Außer beim Völkerball und mit dem Gehör war Reto in allem besser als ich. Vor allem, wenn es um Sprache ging. Er saß ganz außen beim Fenster, während des Unterrichts sah ich ihn im Profil, er hatte ein sehr klares Profil, wie auf einer Medaille. Ich

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