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Der Klavierstimmer

Der Klavierstimmer

Titel: Der Klavierstimmer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Pascal Mercier
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Ob es euch paßt oder nicht. Das war das eine, was ich immer wieder hörte, als ich meinem toten Vater gegenübersaß. Und das andere: Ich beschloß, ein guter Vater zu werden. Obwohl ich keine Ahnung hatte, was das ist.
    Ich weiß nicht, ob er ein guter Vater war, denn auch ich weiß nicht, was das ist. Was ich weiß: daß ich viele Stunden voll von märchenhaftem Glück erlebte, wenn ich mich in seinem Genfer Arbeitszimmer an die samtweiche Tapete lehnte und seinen langsamen Worten lauschte, die in den Rauch orientalischer Zigaretten eingehüllt waren und Opernschicksale beschrieben, von denen ich nur das eine verstand: daß sie viel, viel größer und wichtiger waren als alles, was den Menschen zustieß, denen man begegnete, wenn man die Schuhe anzog und hinunter auf die Straße ging. Damals und später bei Cesare Cattolica lehrte mich Papa, was Einbildungskraft ist. Kann ein Vater einem Kind etwas Wichtigeres aufschließen als die Welt der Phantasie?
    Es gab nur eine einzige Gelegenheit, wo es umgekehrt war und ich ihm etwas aufschließen konnte. Das war, als ich mit ihm zu Steinway nach New York reiste. Erst heute kann ich es sagen, und ich bin erleichtert, daß es soweit ist: Ich war nachträglich froh, daß du krank wurdest und das Bett hüten mußtest. Mit dir wäre es eine ganz andere Reise geworden, und ich besäße nicht die kostbaren Erinnerungen, die eine nach der anderen in mir aufstiegen, nachdem ich dich bei der Totenwache abgelöst hatte.
    «Neuyork», sagte Papa, als wir in Frankfurt auf den Start warteten,«ich hätte nicht gedacht, daß ich einmal dorthin käme.»Ich habe ihn in den neun Tagen nicht dazu bewegen können, den Namen richtig auszusprechen. Und das lag nicht an seinem schlechten Englisch. Wenn er an seiner Aussprache festhielt, dann deshalb, weil es sein New York war, in das er reiste, eine Stadt, die er durch seine Aussprache und seinen Tonfall kurzerhand zu einem Bestandteil seines Lebens machte.
    Du wirst dich erinnern: Er hatte eine rührende, träumerische Art, von weit entfernten, legendären Orten zu sprechen: von Kap Horn, Feuerland, der Behringstraße. Fritz Bärtschi war gut in Geographie, das war die einzig gute Note. Die wahren Verhältnisse auf der Erde kannte er also. Aber sie interessierten ihn nur als Spielmaterial für die Phantasie. Und wenn sie ihn bei seinen phantastischen Reisen durch die Welt störten, setzte er sich einfach darüber hinweg. Städte, Landschaften: Ihn interessierte nur, was in seiner Phantasie daraus wurde. Der Rest war ihm so sehr gleichgültig, daß es einem den Atem verschlagen konnte. Ganz begriffen habe ich das erst auf jener Reise. Zwar stimmt es, daß ich ihm mit den besseren Sprachkenntnissen manches aufschließen konnte. Doch wenn wir abends zusammensaßen und er erkennen ließ, wie der Tag für ihn gewesen war, kamen mir die praktischen Dinge, die ich beigesteuert hatte, unwichtig vor im Vergleich zu dem, was in seinem Kopf aus dem Erlebten geworden war.
    Auf dem Hinflug erzählte er von dem Reklameschild für Bière Cardinal. Im Rückblick kommt es mir vor, als habe er während des gesamten Fluges nur darüber gesprochen, nur über dieses eine Schild.«Meine erste Reise war eine Fahrt mit der Eisenbahn von Fribourg nach Genf», begann er.«Das war in demselben Jahr, in dem Mutter starb. An meinem siebten Geburtstag, wenige Wochen nach Kriegsende. Jahrelang hatte ich auf diese Fahrt warten müssen, denn das Geld für die Fahrt, das war für uns viel Geld, als Kellnerin im Bahnhofsbuffet der zweiten Klasse verdient man nicht viel. Wenn man das nun so hört, daß ich lange darauf gewartet hatte, würde man denken: Es war wegen Genf, er war neugierig auf Genf und auf die Strecke den See entlang. Aber so einfach war es nicht. Vor allen Dingen nämlich wollte ich das große Metallschild sehen, das am verrosteten Geländer unseres baufälligen Balkons angebracht war. Es war eine Reklame für Bière Cardinal . Eine Reklame, die den Fahrgästen ins Auge springen sollte. Denn wir wohnten in einem Haus direkt am Geleise, und wenn der Zug vorbeifuhr, wackelte das ganze Haus, insbesondere der Balkon.
    Nun würde man denken: Wenn das Schild am Balkongeländer hing - warum sagt er dann, daß er jahrelang darauf wartete, es zu sehen, er konnte es doch jeden Tag sehen. Das stimmt, ich konnte es tatsächlich jeden Tag sehen, sooft ich wollte. Das war nicht das Problem. Das Problem war, daß ich das Schild unbedingt von der anderen Seite aus sehen

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