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Der Klavierstimmer

Der Klavierstimmer

Titel: Der Klavierstimmer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Pascal Mercier
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wirklich nicht! Und der Gipfel: Jetzt findet sie die Wahnsinnsszene uninteressant. Uninteressant! Gut, Bovary versteht mal wieder gar nichts. Aber sie schnauzt ihn an wie einen Dienstboten: ‹Tais-toi!› Le pauvre garçon nennt ihn Flaubert. Was fällt dem Mann ein, dem rechtschaffenen Bovary gegenüber einen derart herablassenden Ton anzuschlagen!
    Wochenlang habe ich mich aufgeregt. Doch das Notenpapier blieb leer. Aufregung reicht für eine Oper nicht. Etwa ein Jahr später habe ich es mit einer verrückten Version versucht: Charles weiß alles und wird zu Emmas Berater im Umgang mit ihren Liebhabern. Um sie nicht ganz zu verlieren. Eines Tages dann will sie aufhören und wieder zu ihm zurückkehren. In diesem Moment verläßt Charles sie: Er hat herausgefunden, daß es am besten ist, allein zu leben. Doch die Musik wollte auch jetzt nicht kommen.»
    Um in die Bar gelassen zu werden, hatte Papa ein hauseigenes Dinner-jacket anziehen müssen. Er rächte sich, indem er auf französisch bestellte. Seine Suffisance, als der Kellner nicht verstand, war bühnenreif. Später lenkte ich den Kellner ab, so daß Papa unbemerkt hinausschlüpfen konnte. Die Jacke gaben wir einem Bettler, der seinen Augen und Ohren nicht traute. Vor der Tür unserer Hotelzimmer lachten wir immer noch.
    Unglaublich war, Papa bei Tiffany’s zu erleben. Er werde einfach mit plastic money bezahlen, sagte er auf dem Weg. Der Ausdruck, den er am Tag zuvor in einem Restaurant aufgeschnappt hatte, gefiel ihm über alle Maßen. Und als ich sah, wie unbekümmert er sich in diesem nobelsten aller Geschäfte benahm, verstand ich plötzlich, warum: Das Geld, das er hier ausgeben würde, war ohnehin kein wirkliches, kein echtes Geld wie dasjenige, das Odile im Bahnhofsbuffet (dem Buffet der zweiten Klasse) verdient hatte; es war GPs Geld, unverdientes Geld, das mit ihm im Grunde nichts zu tun hatte, auch wenn er es ausgab. Er tat, als gehörte ihm alles, weil ihm nichts gehörte. Über die irren Preise lachte er so laut, daß es mir peinlich war. Maman kaufte er einen Armreif und mir eine Haarspange. Er war an diesem Morgen nicht rasiert, und der Kragen war zerknittert wie bei einem, der in den Gängen der Subway geschlafen hatte. Die Frau an der Kasse hielt die goldene Kreditkarte für gestohlen, da bin ich sicher. Ob er sich ausweisen könne? «Swiss money», sagte Papa, als er ihr den roten Paß hinhielt. Sein Gesicht dabei war so, daß ich nicht wußte, ob ich lachen oder mich fürchten sollte: wie in Stein gehauene Ironie. Die Frau holte telefonisch eine Bestätigung ein. Mir schien, als zuckte Papa buchstäblich nicht mit der Wimper. Die Frau war noch immer nicht zufrieden und holte den Chef. «Swiss money good money», sagte Papa, als er Karte und Paß zurückbekam. Er war unmöglich. Er war großartig.
    «Und jetzt auf nach Harlem!»sagte er anschließend. Aber doch nicht mit Tiffany-Schmuck in der Tasche, gab ich zu bedenken. Es half nichts. Ich hatte Angst, wie man als Tourist Angst vor Harlem hat. Bei Papa keine Spur von Angst. Es gefiel ihm in Harlem, es gefiel ihm unheimlich gut. Er merkte, wie es mich beunruhigte, wenn herumstehende Schwarze uns mit den Blicken folgten.«Es sind keine feindseligen Blicke», sagte er und legte mir den Arm um die Schulter,«es sind nur stille Blicke.»Plötzlich war meine Angst verflogen, und ich genoß es, neben meinem furchtlosen Vater einherzugehen. «Good weather!» sagte Papa zu einem alten Mann, der vor einer Schuhmacherwerkstatt reglos auf einem Schemel saß. Dabei schneite es, und die frühe Dämmerung setzte ein.
    Kein Tag verging, ohne daß wir auf dem RCA Building waren. Natürlich waren wir auch auf dem Empire State Building und dem World Trade Center. Aber die Aussicht vom RCA Building fanden wir unvergleichlich, und außerdem waren wir da fast immer allein. Das grüne Rechteck des Central Parks mitten im Meer von Wolkenkratzern: Es beeindruckte Papa jedesmal wie beim erstenmal. Wenn er, heiser vor Begeisterung, mit ausgestrecktem Arm darauf zeigte, dachte ich: Bière Cardinal .
    Zur Freiheitsstatue wollte er nicht.«Kitsch!»war sein lakonischer Kommentar. Ellis Island dagegen, die erste Station der Einwanderer, wollte er unbedingt sehen.
    Einmal kamen wir an der Houston Street vorbei. «Hausten», las Papa. «Juusten», korrigierte ich ihn. Da hielt Papa zwei Jugendliche an, zeigte auf das Schild und sagte: «Say this!»«Hausten Street», sagten sie wie aus einem Munde. Der Triumph in seinen

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