Der Klavierstimmer
wollte. Ich wollte dem Haus gegenüber sein und lesen: Bière Cardinal . Eigentlich sollte ich nicht sagen: lesen . Zwar wußte ich von meiner Mutter, daß es sich wegen der Lücke zwischen den Buchstaben um das handelte, was sie zwei Wörter nannte. Und ich wußte, wie man sie aussprach: Bière Cardinal . Aber ich hätte nicht sagen können, wie die Buchstaben in einer anderen Reihenfolge lauteten. Nur in dieser Reihenfolge kannte ich ihren Klang: Bière Cardinal .
Warum nun wollte ich auf die beiden Wörter von der anderen Seite aus blicken? Ich habe lange gebraucht, bis ich es herausfand. Zuerst bin ich aufs Geländer geklettert, habe mich so weit hinausgelehnt wie möglich und habe die Buchstaben, die auf dem Kopf standen, von oben betrachtet. Bald wußte ich: Das war es nicht, worum es mir ging. Dann habe ich wochenlang überlegt, wie ich auf die andere Seite der Geleise zu dem Elektrohäuschen gelangen könnte, das unserem Haus direkt gegenüberlag. Das war schwierig, denn auf beiden Seiten gab es einen unüberwindlich hohen Zaun. Außerdem hätte es ein fürchterliches Donnerwetter gegeben, wenn mich Mutter auf der anderen Seite gesehen hätte. Schließlich entdeckte ich weit weg einen Geleiseübergang. Ich wartete ein paar Tage, bis der Nebel kam. Als ich endlich beim Elektrohäuschen stand, war der Nebel so dicht, daß ich nur die ungefähren Umrisse unseres Hauses erkennen konnte, aber nicht das Schild mit Bière Cardinal . Erst am dritten Nebeltag hatte ich Glück: Ich stand verborgen im Nebel, und gegenüber schien die Sonne auf das Schild, so daß ich die Aufschrift sehen konnte: Bière Cardinal .
Ich war enttäuscht. Das war es auch nicht, worum es mir die ganze Zeit gegangen war. Nach einer Weile kam ein Zug. Ich blieb stehen, und durch die vorbeiflitzenden Fenster hindurch war mein Blick auf das Schild gerichtet: Bière Cardinal . Da wußte ich es: Ich wollte das Schild nicht einfach von der anderen Seite aus sehen, sondern aus einem fahrenden Zug heraus. Ich wollte es so sehen, wie einer es sieht, der es sich leisten kann, daran vorbeizufahren. Bequem in einem Zugabteil sitzen, ein schönes Reiseziel vor Augen, und nur einen flüchtigen Blick auf das häßliche Haus mit dem Schild werfen: Das war es, wovon ich geträumt hatte. Deshalb war der siebte Geburtstag so wichtig: Jetzt würde es genauso sein, endlich.
Doch es kam anders. Alle Plätze auf der richtigen Zugseite waren belegt. Meine Mutter verstand nicht, warum ich immer weiter auf dieser Seite suchte, wo es doch Plätze auf der anderen Seite gab. Ich spürte, daß das etwas war, was ich ihr nie würde erklären können. Daß es etwas war, was ihr weh tun müßte. Sie wurde ärgerlich und hielt mich schließlich fest. Darüber verpaßte ich den Blick auf das Schild mit Bière Cardinal , und nun dachte ich während der ganzen Reise daran, daß mir das auf der Rückfahrt auf keinen Fall passieren durfte.
Genf war groß und bunt und laut. Vor jedem Kleidergeschäft blieb meine Mutter stehen, vor jedem. Auch vor den Speisekarten der Restaurants. Mittags kaufte sie ein belegtes Brot, das wir uns auf einer Bank am See teilten. Später bekam ich noch ein Eis. Als sie es bezahlte, fiel das Portemonnaie zu Boden. Was herausrollte, war ein einziges Ein-Franken-Stück, ich sehe es noch heute rollen. Beim Schiffsquai blieb sie stehen und holte das Portemonnaie noch einmal hervor. Sie wandte sich von mir ab, als sie es untersuchte. Aber sie weiß doch auch so, daß nicht genug drin ist, warum sieht sie nach, dachte ich. Ich weiß nicht, was mehr weh tat: dieser Gedanke oder die Tatsache, daß sie sich abwandte. Als sie mich ohne ein Wort bei der Hand nahm, hatte sie Tränen in den Augen.
Wir waren eine Stunde zu früh am Bahnhof. Mir knurrte der Magen. Mutter zog mich an sich. ‹Zu Hause mache ich uns einen schönen Eintopf›, sagte sie, ‹und ganz viel davon.› Auf der Rückfahrt sah ich sie immer wieder vor mir, wie sie sich abgewandt und das Portemonnaie untersucht hatte. Ich kuschelte mich an sie. Ich wollte, daß sie verstand: Es machte nichts, daß wir kein Geld hatten. Sie legte den Arm um mich, und so blieben wir sitzen. Darüber verpaßte ich das Schild mit Bière Cardinal , obwohl wir auf der richtigen Seite saßen. Erst viele Jahre später habe ich das Schild vom Zug aus gesehen. Das Schild sagte: Bière Cardinal . Sonst sagte es mir nichts mehr. Ich wußte nicht, ob ich darüber froh oder traurig sein sollte.»
Als der amerikanische
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