Der Klavierstimmer
Rauheit ihres Flüsterns, die mich gleichermaßen anzog und abstieß. All das war verflogen wie ein Spuk, und während ich ohne Appetit vor dem vollen Teller saß, tobten die widersprüchlichsten Empfindungen in mir: Ich war erleichtert, daß es wieder einmal vorbei war und die nüchterne Wirklichkeit des Essens die gespenstische Episode im Boudoir verdrängt hatte; gleichzeitig fühlte ich mich betrogen, als habe man mir einen kurzen Blick auf die wirkliche Wirklichkeit gewährt, nur um sie mir sofort wieder zu entziehen. Dich wagte ich nicht anzusehen, obgleich ich deinen Blick auf mir zu spüren meinte. Es war, als hätten Maman und ich in jenem verschlossenen Raum ein Stück aus der Zeit herausgeschnitten, das dir nun fehlte, und ich war der Dieb.
Und Vater? Wie immer saß er schweigsam da und kaute bedächtig. Was hatte Mamans rauhes Flüstern und Keuchen mit ihm zu tun? Nahm sie damit auch ihm etwas weg? Die Frage war zu groß für mich, und ich war dankbar, daß Vater nichts von ihr zu wissen schien. An solchen Tagen kam mir das Abendessen endlos vor, und ich sehnte den Moment herbei, wo ich die Tür zu meinem Zimmer schließen, mich aufs Bett legen und ein Buch aufschlagen konnte, das von Dingen handelte, die ich verstand. An solchen Abenden kamst du nie zu mir, nicht ein einziges Mal. Beim Einschlafen dachte ich daran, daß die Nachtstunden dasjenige, was zwischen uns getreten war, auslöschen würden. So war es bisher immer gewesen, so würde es auch dieses Mal sein. Und doch begleitete mich bis in den Schlaf hinein die Angst, es könnte dieses Mal anders sein und du würdest mein Zimmer von nun an nie mehr betreten wollen.
An den Tagen, an denen ich zu Maman ging, warst du anders zu mir als sonst, und zwar schon Stunden vorher. Ich begann, Mamans Rufen auszuweichen. Das war leicht, auch ich hatte einen untrüglichen Sinn für die Zeit von Mamans Wünschen entwickelt. Ich verließ die Wohnung oder stellte mich schlafend. Die Besuche im Boudoir wurden seltener. In Mamans Stimme schlich sich eine Gereiztheit ein, die ich erst später als Panik zu deuten verstand. Sie spürte, daß ich ihr entglitt. Wenn ich eintrat, und manchmal auch beim Hinausgehen, sah sie mich an, als überlegte sie, wie gefährlich ich als Mitwisser war.
Und dann kam jener Nachmittag, der alles beendete. Es war Winter, und die Promenade des Bastions entlang brannten bereits die Laternen. Maman hatte Morphium genommen, ich sah es, kaum hatte ich die Schwelle überschritten. Ihre Augen hatten diesen besonderen, unpersönlichen Glanz, und ihr Lächeln war um eine Nuance zu selbstvergessen, es schien seinen Halt in der Seele verloren zu haben und in den Raum hinaus zu zerfließen. Ich wollte umdrehen und davonlaufen, ganz weit weg, am liebsten an den See. Aber ich brachte die Grausamkeit nicht auf. Es war viel Mitleid dabei, als ich mich umarmen ließ. Sie war heftiger als sonst, diese letzte Umarmung, roh und ungestüm. Mit überraschender, zuckender Gewalt nahm Maman meinen Kopf in die Hände, zog ihn zu sich und preßte ihre geöffneten Lippen so fest auf die meinen, als wolle sie mich verschlingen. Ich spürte die weiche Wärme ihres Mundes, die sich mit dem seifigen Geschmack des Lippenstifts vermischte. Auch heute weiß ich die Empfindung nicht zu benennen, die mich explodieren ließ. Es wäre zu schwach, sie Ekel zu nennen. (Auch wäre es nicht zutreffend. Zwar lag die Empfindung ganz dicht neben dem Ekel, aber der kleine Abstand war wichtig, ohne daß ich zu sagen wüßte, ob er die Sache besser oder noch schlimmer machte.) Alles Erleben schrumpfte in jenem Augenblick auf den Willen zusammen, mich gegen Mamans Überfall zu wehren wie gegen eine tödliche Bedrohung. Einen kurzen Moment noch gelang es ihr, mich festzuhalten. Dann hatte ich die Arme frei und schlug sie mitten ins Gesicht, es war ein pausenloses, blindes Hämmern mit den Fäusten, das einer glühenden Wut entsprang, wie ich sie noch nie erlebt hatte, ich war in diesem Moment nichts anderes als eine Quelle von überbordendem, maßlosem Zorn, der nicht versiegen wollte, sondern sich mit jedem Schlag noch zu steigern schien. Zur Besinnung kam ich erst, als ich das Blut wahrnahm, das aus Mamans Nase tropfte. In die Wut mischte sich Beschämung, ich schloß die Augen und rannte zur Wohnungstür hinaus und die fünf Treppen hinunter auf die Straße, wo ich einen Hausschuh verlor, als ich kopflos durch den Verkehr stolperte und mich im schützenden Dunkel des Parks auf den
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