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Der Klavierstimmer

Der Klavierstimmer

Titel: Der Klavierstimmer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Pascal Mercier
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vor, als verließe ich die Zeit von Paco und Mercedes. Zwar lief sie weiter, jene Zeit, aber sie rückte in den Hintergrund wie eine Stimme, die von einem Dolmetscher übertönt wird. Ich rechnete die Anzahl der Tage aus, die ich dich nicht gesehen hatte.
    Im gläsernen Transitraum von Buenos Aires hörte ich aus dem Lautsprecher dieselbe schläfrige Frauenstimme wie damals. Mit der immer gleichen melodiösen Gleichgültigkeit verkündete sie ihre Botschaften. Ich dachte daran, wie ich auf der Herreise einen Angestellten auf englisch gefragt hatte, um wieviel Uhr die Sonne hier aufgehe. Erst Verblüffung, dann ein Lächeln, das Trost bedeuten sollte: Lange brauchen Sie nicht mehr zu warten, bald ist es soweit. Dabei hatte ich nicht aus Ungeduld gefragt, sondern aus Angst: Solange die Nacht anhielt, war ich noch mit dir verbunden. Wenn der Tag begann, erst dann, wäre es endgültig, daß mein Leben nun auf einem anderen Kontinent weiterging.
    Die Schlagzeile mit dem Bild von Vater in Handschellen bekam ich in diesem Warteraum zu Gesicht. Jemand las die Rückseite einer zerknitterten Zeitung, und als er sich anders hinsetzte, sah ich auf der Titelseite: MORD IN DER OPER. Vater in einer Smokingjacke mit Fliege, der Schnurrbart zerzaust, der Blick starr wie der eines Irren. Ich wartete, bis ich die erste Erregung niedergekämpft hatte, dann trat ich vor den Lesenden und fragte mit gepreßter Ruhe, ob ich die Zeitung haben könne, wenn er fertig sei. Ja, natürlich, sagte der Mann, er habe sie hier aus einem Abfallkorb gefischt, es sei die Zeitung von gestern, jemand müsse sie in einer Maschine aus Deutschland dabeigehabt und hier weggeworfen haben. Er deutete auf die Titelseite. Ob das nicht unglaublich sei?
    Ich setzte mich abseits. Ich schaffte es nicht, den Text zu lesen. Nicht nur, weil alles in Tränen verschwamm. Es wurde mir übel, ich rannte auf die Toilette und übergab mich. Bevor ich wieder an Bord ging, riß ich die Titelseite in Fetzen.
    Der Sitz neben mir war frei, und ich las die ganze Nacht. Es war ein mühsames Lesen, denn ich mußte mich ständig gegen das gespenstische Foto von Vater und gegen die Vorstellung von Paco mit dem blutigen Turban wehren. Ich versuchte, mit Michael Kohlhaas weiterzumachen; doch es gelang mir nicht, die Gedanken beim Text zu halten. Jetzt, wo ich in der Luft war und der Begegnung mit Maman entgegenflog, bedrängten mich ihre ungelesenen Briefe von Minute zu Minute mehr.
    Schließlich gab ich nach, nahm sie aus der Tasche und legte sie auf den leeren Sitz, sechsundsiebzig an der Zahl.
    Zunächst betrachtete ich sie eine Weile von außen. Immer das gleiche teure Kuvert mit dem aufgedruckten Absender in schräg gestellten, ziselierten Lettern: CHANTAL DELACROIX DE PERRIN. Daß dies, weil der Bindestrich fehlte, eine unmögliche Schreibweise ihres Doppelnamens war - wie oft haben wir es ihr gesagt! Aber es war wie immer, wenn Mamans Gedankenwelt in Konflikt mit der wirklichen Welt geriet: Die wirkliche Welt unterlag. Vaters Briefe waren in gewöhnlichen Luftpostumschlägen gekommen, die Anschrift in steifen, zu groß geratenen Schönschrift-Buchstaben. Der Kontrast zu Mamans Handschrift hätte nicht größer sein können. Ihre hauchdünnen Schriftzüge. Die gleiche blaßblaue Tinte wie immer. Dafür, daß ihre Schrift elegant wurde, hatte GP gesorgt. Auch darin war sie sein Geschöpf.
    Schon am Abend zuvor hatte ich diese Umschläge lange betrachtet. Ich hatte nicht wissen wollen, was auf den hellbeigen Briefbogen stand. Andererseits war es unerträglich gewesen, mit der gespenstischen Nachricht aus Berlin im Kopf nur herumzusitzen und zu warten. Vielleicht fand sich in den Briefen ein Fingerzeig, eine Vorgeschichte, irgend etwas, was die Tat weniger absurd erscheinen ließ. Die Tat, die Vater unmöglich begangen haben konnte. Um die Lektüre aufzuschieben, hatte ich zu packen begonnen. Zweimal packte ich wieder aus und begann von neuem. Als ich keinen Vorwand mehr fand, mich noch weiter mit der Reisetasche zu beschäftigen, begann ich die Wohnung zu putzen. So sauber wie danach ist sie noch nie gewesen. Ein letztes Mal erwog ich, die Briefe ungeöffnet zurück in die Schublade zu tun. Für einen Augenblick, in dem die alten Gefühle hochschossen wie eine Stichflamme, war ich sogar versucht gewesen, den ganzen Stapel hinunter zur Mülltonne zu tragen. Aber natürlich ging es so nicht. Schließlich hatte ich beschlossen, sie auf dem Flug zu lesen. Und so machte ich sie jetzt auf

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