Der Klavierstimmer
gefrorenen Boden warf, um den Tränen freien Lauf zu lassen.
Maman war sehr weiß, als ich sie am nächsten Morgen sah. Weiß, nüchtern und verschlossen. Es war, als habe sie sich in sich weggeschlossen. Mit keinem Wort haben wir jemals über das Geschehene gesprochen. Und wir haben uns nie mehr berührt. Nicht einmal zu einem Händedruck ist es gekommen. Wenn ich krank war, überließ Maman Jeannette die Pflege, und wenn sie ab und zu selbst nach mir sah, blieb sie jenseits der Schwelle. Die Worte, die wir wechselten, waren in der ersten Zeit betont neutral, keimfrei. Du hast es beobachten können: Es dauerte Jahre, bis wir einen Ton gefunden hatten, der nicht nur das Spiegelbild unserer Befangenheit war.
Als wir ein Jahr später nach Berlin zogen, war es, als könnte ich einen belastenden Traum abschütteln: Wir würden nun in Räumen wohnen, in denen nichts geschehen war. Am Tage des Umzugs bat mich einer der Möbelpacker, in dem zukünftigen Boudoir einen Karton zur Seite zu schieben. Danach habe ich das Zimmer kein einziges Mal mehr betreten.
Das waren die Dinge, an die ich dachte, als ich neben dir im Theater saß und immer wieder Mamans Gestalt auf der Galerie vor mir sah. Daß sie ohne Schuhe, nur in Strümpfen dagestanden hatte - es machte mich wütend, ich kann nicht sagen warum. Oder vielleicht doch: Die beinahe nackten Füße müssen das Boudoir in mir heraufbeschworen haben, und indem sie das taten, erhob Maman den Anspruch, daß mein Kuß auf deinen Nacken eigentlich ihr gehörte. Deshalb standen wir uns in jenem Moment gegenüber wie unversöhnliche Feinde, ich unter der Tür, sie auf der Galerie.
Vor dem Moment, wo mein Blick den deinen im Spiegel kreuzte, war die Zeit einfach etwas, das wir teilten, das Medium, in dem wir alles teilten, was uns - wie alle anderen auch - in die Zukunft hineintrug. Und obgleich wir durch unsere Hoffnungen und Pläne auf die Zukunft bezogen waren und von dieser offenen, ungewissen Zukunft in Atem gehalten wurden, hatte dieser Spannungsbogen doch nichts mit unseren Gefühlen füreinander zu tun: Es gab, bevor sich unsere Blicke im Spiegel trafen, keine Beziehung zwischen uns, für die das bloße Verfließen der Zeit in die Zukunft hinein etwas hätte darstellen können, das uns an den Rand einer Gefahr brachte. Oder nein, das stimmt nicht ganz. Bedrohlich wurde das tägliche Verfließen der Zeit schon vorher, vom Beginn des letzten Schuljahres an. Von dem Tag an, wo man rechnen konnte: Wenn dieses Schuljahr vorbei ist, werden sich unsere Wege trennen, oder jedenfalls wird der Gleichklang nicht mehr so vollkommen sein wie jetzt. Ich hatte Angst, Patty, auch Angst davor, du könntest weniger Angst haben als ich. Trotzdem: Erst nach Onkel Wanja war in das Verfließen der Zeit hinein eine Gefahr verwoben, die für Monate im Hintergrund blieb und gelegentlich ganz auszubleichen schien, in Wirklichkeit aber stetig größer wurde, manchmal hatte ich das Gefühl, sie wie ein leises Pochen zu spüren, das ich genoß. Irgendwann brachtest du den Mantel mit dem großen Kragen weg, ich weiß nicht wohin, aber ich sah dich mit der Tüte und wußte Bescheid. Es nutzte nichts. Wir wußten, daß es geschehen würde. Nichts hätte uns aufhalten können.
Ich mußte einkaufen. Mit Ausnahme einer Pizza beim Italiener drüben hatte ich seit Tagen nichts Richtiges gegessen. Den Kühlschrank wieder in Betrieb nehmen: Als das Aggregat ansprang und das Licht anging, war es, als klinkte ich mich in die Berliner Zeit und Wirklichkeit ein. Von jetzt an wohne ich wieder hier, so ein Gefühl war es. Ich machte probeweise wieder aus. Zu spät, es war geschehen. Dazu paßt gar nicht, daß mir Baranski einen förmlichen Brief geschrieben hat, in dem er für Samstag morgen seinen Besuch in Begleitung mehrerer Interessenten ankündigt und mich noch einmal an meinen verbindlichen Verkaufsauftrag und die Vollmacht erinnert. Ich weiß gar nicht, was er will: Es ist noch immer Vaters Haus, das Haus, in dem seine Musik erklingen wird, wenn Juliette Arnaud am Freitag kommt.
Ich war noch einmal weg, um eine Lampe zu kaufen. Juliette muß ja am Flügel etwas sehen. Als ich aus dem Geschäft trat, lief mir Katharina Mommsen über den Weg (du erinnerst dich: der Wirbelwind aus dem Leistungskurs Deutsch). Sie hat in Rekordzeit ein Jurastudium beendet und arbeitet in einer Kanzlei. Über Vater haben wir nicht gesprochen, schon bei der Begrüßung hat sie in der Wahl ihres Tons das Thema geschickt
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