Der Klavierstimmer
ausgeklammert. Chile, das fand sie toll. Mit der Cutterin konnte sie weniger anfangen.«Daß ihr nicht studiert habt», sagte sie immer wieder,«ihr hättet das doch mit links gemacht!»Und warum wir plötzlich weg gewesen seien, wie vom Erdboden verschluckt? Wie wir auf dem Abiturball getanzt hätten - wochenlang sei das am Stammtisch der Ehemaligen Gesprächsthema gewesen. Wären wir nicht Geschwister, man hätte uns für ein Liebespaar halten können!
Ja, wir waren die Stars an jenem Abend. Die Zwillinge! Anfangs waren wir verlegen und hielten uns aneinander fest, noch nie hatten wir in dieser Weise auf dem Präsentierteller gesessen. Was unsere Beziehung anlangte, kannte man uns als zurückhaltend, bisweilen muß es den anderen vorgekommen sein, als seien wir uns im Grunde fremd. Doch jetzt waren aller Augen auf uns gerichtet, die Tanzfläche leerte sich, wir waren ein Paar. Bald wurden wir sicherer, es war die Entdeckung, daß wir nicht nur zu Hause, wo wir öfter getanzt hatten, sondern auch vor Publikum im körperlichen Rhythmus übereinstimmen konnten. Anfänglich waren wir nur erstaunt darüber, noch hatte der körperliche Gleichklang keinen anderen Sinn. Es machte Spaß, wir wurden mutiger, probierten Pirouetten, der Beifall wuchs, begeisterte Pfiffe waren zu hören. Wir tanzten uns in einen wahren Rausch hinein, es kamen Tänze dazu, die wir nicht kannten, wir erfanden sie einfach, und trotzdem war jede Sekunde vollkommene Harmonie der Bewegung. Später taten uns die Füße weh, doch an Aufhören war nicht zu denken, wir warfen uns Durchhalteblicke zu, und immer noch waren wir nichts anderes als Bruder und Schwester. Dann knicktest du ein und verlorst einen Schuh. Ich hielt dich, dann bückte ich mich und zog dir den hochhackigen Schuh wieder an. So hatte ich deinen Fuß vorher noch nie gehalten, ich spüre die Wärme im seidenen Strumpf noch heute. Ich weiß nicht, ob es so war, aber ich habe den Eindruck daß ich ihn einen Moment länger als nötig hielt. Dann war ich wieder oben, der Tanz ging weiter. Ich war außer Atem vom raschen Bücken, und es dauerte einige Takte, bis ich wieder ganz im Rhythmus war und dich sicher hielt wie zuvor. Ich blickte dich an, und da sah ich feuchten Glanz in deinen Augen, der so ganz anders war als der Vorbote der Tränen, den ich kannte. Einen Ausdruck wie diesen hatte ich an dir noch nie gesehen, auch damals im Spiegel nicht. Ich beharre darauf: Es war eindeutig, was er bedeutete. Es kam, wie gesagt, nicht völlig überraschend. Trotzdem war ich wie vom Donner gerührt, ich trat dir auf die Füße, wir stolperten und fielen uns in die Arme, ich roch dein Parfum im Haar, mein Gesicht brannte, tosender Beifall und Pfeifen. Von neuem suchte ich deinen Blick, er war unverändert in seiner Botschaft, ich schickte dich in eine Pirouette, fing dich, sah dich an und drehte dich erneut von mir weg, alle Zukunft der Welt und alles Verbot der Welt lag in diesen Minuten, unsere Blicke wurden trotzig angesichts des gemeinsamen Gedankens an die Folgen, schließlich brachen wir ab und verbeugten uns Hand in Hand, durch die Spitzenhandschuhe hindurch konnte ich spüren, wie feucht deine Hand war.
Für den Rest des Festes war ich wie betäubt, ab und zu streiften wir uns mit dem Blick, ich weiß nicht, wie es weiterging, auf einmal saßen wir im Wagen von anderen, dann standen wir vor unserem Haus, und ich suchte mit zitternden Händen nach dem Schlüssel. Die Tür fiel ins Schloß. Keiner von uns machte Licht. Du standest da in deinem schlichten schwarzen Kleid, das die helle Haut an Hals und Armen betonte. Langsam gingen wir aufeinander zu, es waren die kostbarsten Schritte meines Lebens. Der weiße Schal - du hast gelächelt, als ich ihn um dich schlang, dieses eine Mal war es ein Lächeln ohne Spott, ein Lächeln des Einverständnisses. «Fanfaron» , sagtest du leise. Es ist das schönste Wort, das ich jemals gehört habe. Es war, als zerdrückten wir es mit unseren Lippen.
In jener Nacht sprachst du meinen Namen italienisch aus, immer wieder. Es war, als würde ich dadurch neu erschaffen. Dein Gesicht, wie ich es noch nie gesehen hatte. Der Blick brach, und für einen langen Augenblick versank ich in der Täuschung, es gäbe endlich nichts mehr, was uns trennte.
All das stand mir vor Augen, als die Maschine in Santiago abhob. Als ich spürte, daß das Fahrwerk die Berührung mit der Rollbahn ganz verloren hatte, war Berlin mit einem Schlag wirklicher als Chile. Es kam mir
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