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Der Klavierstimmer

Der Klavierstimmer

Titel: Der Klavierstimmer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Pascal Mercier
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mich zu sich, um ihr beim Frisieren zu helfen, manchmal auch nur, um ihr etwas aufzuheben oder zu halten. Zu Beginn schien es mir nicht bedeutungsvoll, daß sie mich bat, die Tür abzuschließen. Die Intimität, die dadurch entstand, empfand ich nur als Zeichen mütterlicher Zuneigung. Erst als sie immer unverhohlener meine körperliche Nähe suchte, bekam das Abschließen der Tür den Geschmack des Verbotenen. Besiegelt wurde diese Empfindung, als ich Maman eines Tages vor dem Spiegel überraschte, wie sie in dem alten, gelb gewordenen Ballettkostüm mit schmerzverzerrtem Gesicht Pirouetten versuchte. Ihr bleiches Gesicht bekam rote Flecke, als sie mich entdeckte. Mit hektischen, fahrigen Bewegungen holte sie mich herein und schloß ab. Unter Tränen umarmte sie mich und drückte meinen Kopf an die schmerzende Hüfte. Ich roch Mottenpulver und Schweiß und spürte das Gewebe der Strumpfhose an der Wange. Dann mußte ich ihr die Beine stützen, während sie sich auf den Zehenspitzen zu halten versuchte. Betäubt von ihrem Geruch und geängstigt von einer Unzahl neuartiger, verwirrender Empfindungen verließ ich sie schließlich. Wenn ich von nun an das Boudoir betrat, geschah es in einer aufregenden Mischung aus Neugier, Angst und dem zögernden Wunsch, von Mamans Wärme noch mehr als beim letztenmal zu spüren. So entstand zwischen uns nach und nach ein Pakt der verbotenen Wünsche, der Verschwiegenheit und der geräuschlos geschlossenen Türen.
    Maman erfand ein Spiel, das uns half, die Empfindung des Verbotenen voreinander und vor uns selbst zu verbergen: Sie, die mich auf dem Schoß hielt, fing Sätze an, und ich mußte sie vollenden. So schufen wir die Illusion, daß wir eigentlich nichts weiter als ein harmloses Spiel miteinander spielten. Compléter nannten wir das Spiel am Anfang, später wurde daraus penser pensées . Ich liebte das Spiel. Ich liebte es auch dann noch, als mir die Dinge, die dadurch entschuldigt, überdeckt und verleugnet werden sollten, immer unheimlicher wurden. Statt mich auf Mamans Schoß zu setzen, zog ich manchmal einen zweiten Stuhl heran und sah sie erwartungsvoll an. Sie wich meinem Blick aus, sah auf die verschränkten Hände im Schoß und verharrte in beredtem Schweigen. Die Mundwinkel zeigten nach unten, was ihr den Ausdruck von jemandem gab, der sich seiner Macht sicher ist und nur noch darauf zu warten braucht, daß der andere den Widerstand von selbst aufgibt. Das Satzund Gedankenspiel wurde erst in dem Moment von neuem eröffnet, in dem ich wieder auf ihrem Schoß saß und ihre Hände und Lippen auf mir spürte. Als Entschädigung für das Warten kamen die Satzanfänge nun in dichter, atemloser Folge.
    Ich war inzwischen ein Virtuose in dem Spiel und hatte das Gefühl, Mamans Gedanken mit den Lippen zu berühren, wenn ich sie auf die Stirn küßte. Immer öfter versuchte ich, ihre Heftigkeit zu bremsen, indem ich sie in unserem Spiel unter Zeitdruck setzte und in abweisender Erstarrung verharrte, bis ihr der nächste Satzanfang eingefallen war. Es entspannen sich stumme Kämpfe zwischen uns, die ich immer öfter gewann. Maman jedoch wußte zu verhindern, daß aus diesen Siegen eine Befreiung wurde. Kurz vor der Niederlage pflegte sie das Spiel abzubrechen und meinen Kopf unter sich zu begraben, und ihre Bewegungen hatten etwas so Rührendes und Verzweifeltes, daß ich die Kraft nicht aufbrachte, mich ihr zu entziehen. Plötzlich dann wurde Maman von einer geschäftigen Unruhe erfaßt und tat, als seien wir beide die ganze Zeit über mit einem praktischen Ziel befaßt gewesen. Ich mußte ihr noch das eine oder andere bringen, während sie den Morgenrock aus Satin zurechtrückte. (Mit einer heftigen, fast zornigen Bewegung der linken Hand verschloß sie ihn so dicht unter dem Kinn, daß es sie würgen mußte. Mit der rechten ordnete sie das Haar. Es waren stets genau dieselben Bewegungen.) Dann bedankte sie sich mit einem spöttischen Merci, mon petit , und entließ mich. (Das Merci galt den praktischen Dingen, und nur ihnen. Ich weiß nicht, woher ich das wußte, aber ich wußte es.)
    Wenn ich Maman später bei Tisch sah, war ich verwundert, ja eigentlich schockiert darüber, wie geschäftsmäßig sie plötzlich sein konnte, wie gleichmäßig und kühl ihre Stimme klang und wie herb ihr Gesichtsausdruck war, mit dem sie meinen fragenden, ratlosen Blicken begegnete. Keine Spur mehr von der früheren Hitze im Gesicht, vom wiegenden Rhythmus des Körpers und von der befremdlichen

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