Der Klavierstimmer
als einer, der eine Schuld auf sich geladen hatte. Dein wortloser Abschied, die Weigerung zu sagen, wohin du fuhrst, das spätere monatelange Verschweigen deiner Adresse - das machte mich zum Schuldigen. So habe ich es all die Jahre über empfunden. Nachdem du damals aus meinem Blickfeld verschwunden warst, vergrub ich den Kopf im Kissen und durchlebte noch einmal alles, was dazu geführt hatte, daß du noch vor einer Stunde neben mir gelegen hattest.
Wir haben nie darüber gesprochen, aber du weißt es: Begonnen hat es mit unseren Blicken, die sich im hohen Spiegel des Entrées trafen, bevor wir aufbrachen, um Onkel Wanja zu sehen. (Es war ein besonderer Moment, als die Möbelpacker diesen Spiegel hinaustrugen. Ich starrte auf die spiegelnde Fläche, als ließe sich darauf die Stelle ausmachen, an der sich unsere Blicke damals begegneten. Als könnte etwas derart Rätselhaftes wie ein Blick - der wirklicher ist als vieles andere, obwohl man ihn in der materiellen Welt nicht antrifft - auf einer Oberfläche Spuren hinterlassen, Brandspuren sozusagen. Ich bat die Männer anzuhalten, ging nahe heran, und es war verrückt: Ich fuhr mit dem Ärmel über das obere Drittel des Glases, als wolle ich etwas auswischen, dabei - ich weiß es ganz genau - war die Geste gedacht, um jene imaginären Spuren zu entdecken.«Er wird in eine Decke gewickelt», sagte einer der Männer in dem zögernden, ratlosen Versuch, aus der Situation irgendeinen Sinn zu machen.)
Du standest vor jenem Spiegel, als ich herunterkam, der hohe Kragen des Mantels hielt dein Haar wie ein Gefäß. Gerade schobst du die Lippen übereinander, um den Lippenstift ein letztes Mal zu verteilen. Ich wartete auf deinen gespiegelten Blick in Erwartung schwesterlichen, kameradschaftlichen Spotts, vor allem über den weißen Schal. Doch kaum blicktest du auf, veränderte sich dein Blick, er wurde sonderbar dunkel und scheu, einen Moment senktest du ihn, doch dann war er wieder da, unsicher und doch entschlossen, trotzig. Ich traute meinen Augen nicht, traute meiner Fähigkeit nicht mehr, dein Gesicht zu entziffern, das ich seit jeher perfekt zu lesen verstand, besser als jeder andere. Es war eine neue Sprache in deinem Gesicht, eine Sprache, die ich kannte, die jeder kennt, ohne sie gelernt zu haben, aber auf deinem Gesicht konnte diese Sprache nicht sein, auf deinem Gesicht doch nicht, oder doch nicht an mich gerichtet. Ich mußte dich berühren, und es mußte anders sein als sonst, um zu dem Blick zu passen, und so hob ich dein Haar an und küßte dich auf den Nacken. Ich wußte, daß es nicht hätte sein dürfen, daß ich dabei war, die Spielregeln noch viel stärker zu verändern als du mit deinem Blick. Ja, ich wußte es, mitten in meiner sanften Betäubung wußte ich es mit vollkommener Klarheit. Dieses war der schönste Augenblick, schöner noch als alles, was später geschah. Über deine Schulter warf ich dir einen Blick zu. Dieser Blick, er erfand dich für mich neu, so wie dein antwortender Blick mich für dich neu erfunden haben wird.
Und dann geschah etwas, das du nicht gesehen hast, du warst schon draußen im Schneegestöber. Es war zugleich etwas Leises und etwas Dramatisches. Bevor ich die Tür am goldenen Klopfer zuzog, warf ich, ich habe keine Ahnung warum, noch einen Blick zurück. Da stand Maman oben an der Treppe, ohne Schuhe, nur in Strümpfen, auf das Geländer der Galerie gelehnt, als habe sie dort schon lange gestanden, und ihre vor Erregung bebenden Nasenflügel machten das Gesicht bitter und häßlich. Unsere Blicke begegneten sich einen Moment lang, verhakten sich ineinander, in meinem Inneren fühlte es sich an wie trockenes Eis, an dem man sich verbrennt, dann zog ich die Tür ins Schloß. Das Herz klopfte mir danach wie verrückt, ich mußte mich bewegen und nahm Zuflucht zum Ritual, dich wegen der S-Bahn anzutreiben.
Ich würde dir - so dachte ich, als ich neben dir herging - nie erzählen, daß Maman uns im Augenblick der verbotenen Intimität beobachtet hatte, in dem wir in Gedanken ein uraltes Tabu brachen. Ich würde es dir genausowenig erzählen wie das, was sich in ferner Vergangenheit im Boudoir zwischen Maman und mir ereignet hatte und was in überwältigender Dichte in dem Blick gegenwärtig gewesen war, den ich mit ihr soeben getauscht hatte. Das war das eine, das einzige, was ich nicht mit dir zu teilen wünschte. Bis jetzt, wo unser Vertrag der Wahrhaftigkeit es von mir verlangt.
Begonnen hatte es harmlos. Maman rief
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