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Der Klavierstimmer

Der Klavierstimmer

Titel: Der Klavierstimmer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Pascal Mercier
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Kapellmeister des Orchesters von Monte Carlo. Wieviel Zeit würden all diese Dinge in Anspruch nehmen? Vater und Maman schwankten zwischen Extremen: Einmal machten sie eine Rechnung auf, nach welcher man sie eigentlich schon heute anrufen müßte, um sie an den Vorbereitungen zu beteiligen; dann wieder sagten sie sich, daß routinierte Leute nicht mehr als zwei Monate für alles brauchten, höchstens ein Vierteljahr, so daß mit einem Anruf nicht vor Vaters sechzigstem Geburtstag im Juni zu rechnen war. Oft holte Vater den Brief hervor und starrte lange auf die Wendung vom bon moment, als könne er ihr dadurch Genaueres entlocken. Hin und wieder stand er mitten in der Nacht auf und ergänzte die Liste der Dinge, um die sich die Leute in Monte Carlo zu kümmern hatten.
    Es wurden Wochen, in denen sich die Vorfreude durch das endlose Warten und das ängstliche Spekulieren allmählich abnutzte. Er sei froh, meinte Vater, daß er im Steinway-Haus noch nichts gesagt habe. Mehrmals war er kurz davor gewesen, doch dann hatte ihn sein natürliches Mißtrauen, wie er es zu nennen pflegte, im letzten Augenblick davon abgehalten. Er wolle nicht noch einmal so blöd dastehen wie damals, als sich die Sache in Zürich im letzten Moment zerschlug und der Neid der anderen sich in wochenlanger, unverhohlener Schadenfreude entlud, sagte er. Auch Hugentoblers Betrug beim Schießen gehe ihm jetzt wieder öfter durch den Kopf, er wisse nicht warum. Am ehesten würde er es noch Liebermann von der Werkstatt erzählen; aber der könne den Mund nicht halten. Wenn er so rede, schrieb Maman, sei er wieder ganz das Waisenkind aus dem Heim. Seine Ausdrucksweise sei dann schrecklich derb, und er verfalle in den stampfenden, aufbegehrerischen Tonfall der Deutschschweizer. Es höre sich an, als könne er kein Wort Französisch. In solchen Momenten sei es fast unmöglich, sich ihn neben dem monegassischen Fürsten und Prinzessin Caroline in der Loge vorzustellen.
    Statt ihm diesen ziemlich kühlen Brief zu schicken, hätten sie ihn eigentlich auch anrufen können, sagte Vater einmal vor dem Einschlafen. Und ein anderes Mal: Auf welchem Schreibtisch seine Partitur jetzt wohl liege? Er versuche, sich den Raum vorzustellen. Es war, meine ich, im selben Brief, daß Maman darüber nachdachte, wie wenig Vater und sie über die Welt der Opernaufführungen im einzelnen Bescheid wußten. Vater wisse zwar alles über Ort und Zeit von Uraufführungen und natürlich über Erfolge und Mißerfolge. In diesen Dingen sei er beschlagen wie kaum ein anderer. Wenn es jedoch darum gehe, was alles vorangegangen sein müsse, bevor sich der Vorhang für eine Uraufführung heben könne, so merkten sie jetzt, wie wenig genau ihre Vorstellungen seien. Geradezu hilflos kämen sie sich vor. Zugeben würde Vater das nie. Aber wenn sie sehe, wie er am Schreibtisch über der Liste brüte, oder spüre, wie er neben ihr Stunde um Stunde wach liege, dann wisse sie, daß er das auch denke. In solchen Momenten (aber das sage sie nur mir allein und ganz im Vertrauen) habe sie manchmal den paradoxen, geradezu aberwitzigen Gedanken, daß Vater sich jetzt, wo die Aufführung der Oper noch ein bloßer Wunschtraum sei, womöglich glücklicher fühle als später, wenn der Traum mit der Wirklichkeit in Berührung komme. Die Schriftzüge in diesem Brief waren seit langem wieder einmal fahrig und unsicher, ich sah Mamans zittrige Hand vor mir. Doch wie hellsichtig hatte das Morphium sie gemacht!
    Auf dem Monitor im Flugzeug konnte man sehen, daß wir den Äquator längst überflogen hatten. Ich schloß die brennenden Augen. Ja, sagte ich zu Vater, über die Geschichte der Oper weißt du alles, da macht dir niemand etwas vor, du bist, was das angeht, ein wandelndes, unfehlbares Lexikon. Als es das große Quiz im Fernsehen gab, warst du zu Hause vor dem Bildschirm besser als alle Kandidaten im Studio. Fast immer kam deine Antwort schneller als ihre. Dann hast du gelächelt. Einmal machte einer der Experten einen Fehler, der Kandidat verlor einen Punkt. Du sagtest, es sei ein Fehler, und gabst die richtige Auskunft. Wir zweifelten. Auch die Bekannten, die wir eingeladen hatten, zweifelten. Die Experten waren immerhin Musikprofessoren. Noch während der Sendung wurde der Fehler korrigiert. Du hattest recht gehabt. Du lächeltest, ohne ein Wort des Kommentars. Ich war danach naß vor Schweiß, Vater. Und ich wußte nicht, worum ich mehr gebangt hatte: daß du recht hättest und glücklich wärst

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