Der Klavierstimmer
Flugzeug ein zweites Mal so, als sei ich blind, dieses Mal, was das Denken betraf; denn nur ganz allmählich dämmerte mir, daß es meine jahrelange Weigerung gewesen war, Mamans Briefe aufzumachen, die dazu geführt hatte, daß du und ich all die Jahre, bis gestern, kein einziges Wort mehr gewechselt hatten. Gut, als du dich schließlich entschlossest, deine Adresse preiszugeben, schriebst du mir nicht direkt. Aber danach hätte ich dir ja von mir aus schreiben können - wenn die Karte, die dich viel gekostet haben mußte, nicht jahrelang ungelesen in der Schublade unter der gehäkelten Decke gelegen hätte. Als die Stewardeß mich - den weit und breit einzigen, bei dem das Lämpchen brannte - fragte, ob alles in Ordnung sei, nickte ich kleinlaut und machte für einige Minuten das Licht aus.
Auf der anderen Seite des Gangs, wo einige Sitze frei geblieben waren, lag eine Frau, den Kopf in den Schoß ihres Mannes gebettet. Auch du schliefst einmal mit dem Kopf in meinem Schoß, damals auf der Klassenfahrt nach Rom. Als du dich, schon halb im Schlaf, hinlegtest, erschrak ich und spürte meine Wangen brennen. Doch die anderen im Abteil fanden nichts dabei. Wir, die bewunderten Zwillinge, genossen Respekt, ja mehr noch: Wir waren unantastbar. Ich glaube, das war sogar hinter unserem Rücken so. Für Stunden wagte ich mich nicht zu rühren und gab vor, auch zu schlafen. Als es langsam hell wurde, strecktest du dich, setztest dich auf und sagtest:« Bonjour ». Durchs Haar fuhrst du mit meinem Kamm.
In den folgenden Briefen war etwas mit Mamans Schrift passiert, sie wurde fahrig und auftrumpfend. Also hast du das Zeug wieder genommen, Maman, sagte ich zu ihr. Um danach die weißen Sachen anzuziehen und es vor dem Spiegel unter Tränen noch einmal zu versuchen. Es war unfair, das zu ihr zu sagen. Doch meine lautlosen Worte waren wie ein Zucken, gegen das man nichts vermag. Ob ich sie jemals los werde, die Bilder und Gerüche von damals?
Von nun an las ich die Briefe nicht mehr richtig, sondern überflog sie auf der Suche nach etwas, das Vater betraf. In einem Brief, den sie vor drei Jahren geschrieben hatte, fand ich es. Der Brief war in ihrer normalen Handschrift geschrieben, und der Ton war auf einmal ganz anders, wie wenn sie inzwischen wieder ganz nüchtern geworden wäre. Vater arbeite an einer neuen Oper, schrieb sie, einer Vertonung von Kleists Michael Kohlhaas . Dieses neue Vorhaben verändere ihn. Bis vor kurzem noch sei er wegen einer besonders dichten Folge von Enttäuschungen in bitterer Stimmung gewesen und habe noch weniger gesprochen als sonst. Nun werde er ruhiger, manchmal wirke er beinahe gelöst. Und das Schönste sei, schrieb sie, daß er mit ihr über die neue Oper spreche, sie an seiner Arbeit teilhaben lasse. Sie habe daraufhin Kleists Novelle gelesen, und nun verfolge sie, was in Vaters Händen aus den Figuren werde. Ob ich die Novelle kenne? Ob sie mir den Text schicken solle? Sie würde ein neues Exemplar kaufen müssen, fügte sie hinzu, denn das Bändchen aus deinem Regal, mit dem Vater gearbeitet habe, sei übersät mit Anmerkungen.
Auch in den folgenden Briefen war viel von der neuen Oper die Rede. Maman wurde zunehmend besorgt, wie eigenwillig Vater mit Kleists Figuren und der Geschichte insgesamt umging. Sie befürchtete, die Jury, welche das Werk eines Tages zu begutachten hatte, könnte daran Anstoß nehmen. Andererseits stand in einem der Briefe ein Satz, der mir die Tränen in die Augen trieb: Stell Dir vor: Die Frau von Kohlhaas (Lisbeth heißt sie) bekommt bei Vater eine ganz wichtige Rolle . Wie schwer dieser Satz im Rückblick wiegt! Und an noch einen Satz erinnere ich mich: Frédéric sagt jetzt oft:«Das wird mein großer Wurf.» Weißt du noch, wie wir sie gehaßt haben, diese Rede vom großen Wurf ? Denn der große Wurf, das war das Werk, mit dem sich Vater, weil er es nie schreiben würde, um sein Leben betrog.
Es gab kaum mehr einen Brief, in dem Maman die neue Oper nicht erwähnt hätte. Sie sprach nie von«unserer»Oper; aber der Ton war so, daß mich das nicht überrascht hätte. Es war etwas zwischen ihr und Vater geschehen, dachte ich damals, etwas, das diese beiden Menschen neu verband. Vielleicht zum erstenmal wirklich verband. Jetzt, wo ich weiß, wie sich die Dinge entwickelt haben, denke ich, daß es dieses neue Band zwischen ihnen war, das mit unerbittlicher Logik zu dem tödlichen Drama führte.
Dazu passen Sätze aus einem Brief, den sie vor etwa einem Jahr
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