Der Klavierstimmer
Tage, an denen wieder einmal eine Partitur zurückgekommen war. Aber irgendwie nahm man Vater die Grobheit nicht übel. Man spürte, daß etwas an ihm nagte und daß der scharfe Ton Ausdruck seiner Verletzlichkeit war.
Es war einfühlsam, wie Liebermann darüber sprach. Ich glaube, wir haben ihn unterschätzt. Zu Ende des Gesprächs war ich einen Moment lang versucht, ihm die Wahrheit über die Schüsse zu erzählen. Aber Vater hätte das nicht gewollt, und so ließ ich es. Es sei eine schreckliche Tragödie, sagte Liebermann zum Abschied. Einen Klavierstimmer wie Vater werde es so schnell nicht wieder geben. Er vermisse ihn.
Laut Mamans nächstem Brief nahm Vater Ende April überstürzt Urlaub. Sie reisten zusammen nach Monaco. Sie müssen das überwältigende, blinde Gefühl gehabt haben, daß es darauf ankam, am Ort der Entscheidung leibhaftig anwesend zu sein. Mit simplem Schweigen kämen die dort unten nicht durch, sagte Vater immer wieder; jetzt werde er sie stellen .«Sie»- die unsichtbaren Mächtigen, die über ihn und seine Oper aus purer Willkür entschieden. Sie wollte er aufspüren und zur Rechenschaft ziehen. Was hatte diese Reise für einen Sinn, dachte ich beim Lesen. Außer einer Postfach- und einer Telefonnummer hattet ihr doch nichts in der Hand, um euch Gehör zu verschaffen. Aber das konnte Vater nicht aufhalten. Daß es in Monte Carlo für ihn gar nichts zu tun gab - daran dachte er nicht oder wollte er nicht denken.
Das erste, was Vater am Flughafen von Nizza tat, war, im Telefonbuch von Monaco nach dem Namen der Frau zu suchen, die den Brief unterzeichnet hatte. Er stand nicht drin. Also hatten die Frauen von der Berliner Telefonauskunft recht gehabt. Dreimal hatte er dort angerufen, bevor er sich geschlagen gab. Es war Mamans Idee gewesen, die Frau mit dem unmöglichen Namen zu Hause anzurufen. Nun schlug sie vor, auch die Verzeichnisse der benachbarten Orte durchzukämmen, bis hinauf nach Menton und hinunter nach Antibes und Cannes. Nichts; an der gesamten Côte d’Azur wohnte keine Nerea Etxebeste. Und es waren auch keine Namen verzeichnet, die ähnlich lauteten, so daß man an einen Tippfehler hätte denken können.
Sie blieben drei Tage. Es muß für beide ein Alptraum gewesen sein. Die Telefonauskunft weigerte sich, die Adresse preiszugeben, die zu der Telefonnummer gehörte. Es half nichts, daß Maman sich auf den Ton besann, den GP bei solchen Gelegenheiten angeschlagen hatte. Da verfiel Vater auf die Idee, bei den Postfächern in Monte Carlo auf den Abholer zu warten. Er wartete und wartete, zwei volle Tage lang. Niemand kam.
Ich sehe dich dort stehen, Vater, aufrecht und still. Jede Frau, die hereinkommt, musterst du: Ist sie Nerea Etxebeste? Oder die andere, deren Namen du in der Aufregung sofort wieder vergaßest? Abends, schrieb Maman, standest du bis tief in die Nacht vor dem Fürstenpalast in Monaco-Ville. Das Waisenkind, das zu den Mächtigen hinaufschaut und davon träumt, sie zur Rechenschaft zu ziehen. Vater. Es waren doch nicht der Fürst und seine Töchter, die entschieden. Es war eine Jury.
Bevor sie aus Monaco abreisten, wollten sie das Opernhaus von innen sehen, um nach all den Vergeblichkeiten wenigstens diesen Eindruck mitnehmen zu können. (Demnach glaubten sie trotz allem noch an eine Aufführung der Oper.) Es erwies sich als unmöglich. Die livrierten Angestellten des Casinos behandelten sie wie zwei Vagabunden mit zweifelhaften Absichten und verstellten ihnen den Weg die Treppe hinauf zur Salle Garnier. Als Vater den sorgfältig verpackten Brief mit dem fürstlichen Emblem hervorkramte, weigerten sie sich, auch nur einen Blick darauf zu werfen. Statt dessen sahen sie sich vielsagend an, als hätten sie es mit einem Irren zu tun. Es habe nicht viel gefehlt, schrieb Maman, und Vater wäre tätlich geworden.
Er atmete schwer, als sie nachher auf dem Platz mit dem Denkmal für Jules Massenet standen. Den Brief immer noch in der Hand, erzählte Vater von den beiden Opern des Franzosen, die in Monte Carlo uraufgeführt wurden. (Die eine sei Don Quichotte mit Fjodor Schaljapin in der Titelrolle gewesen, die andere habe sie vergessen, schrieb Maman.) Plötzlich, mitten im Satz, brach er ab und starrte auf eine schwarze Tür an der Seite des Casinos. Das müsse die Tür sein, durch die der Fürst die Oper betrete, sagte er, er habe darüber gelesen. Langsam ging er darauf zu. Sie könne es nicht erklären, schrieb Maman, aber die Langsamkeit seiner Bewegungen habe
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