Der Klavierstimmer
darüber; oder daß du hin und wieder etwas nicht wüßtest, damit dein Fanatismus nicht noch mehr Nahrung bekäme. Warum hast du nicht bemerkt, daß du uns mit diesem Fanatismus aus der Welt der Musik vertriebst? Warum nicht?
Aus Mamans nächsten Briefen ging hervor, daß Vater auf weitere Nachricht aus Monaco wartete, als hinge sein Leben davon ab. Samstags, wenn er nicht ins Geschäft mußte, wartete er am Fenster auf den Postboten, und an den anderen Tagen rief er mittags zu Hause an. Früher sei die Post zweimal am Tage gekommen, habe er neulich gesagt. Wenn er im Entrée beim Telefon vorbeikam, hob er ab und prüfte, ob die Leitung in Ordnung sei. Danach legte er den Hörer vorsichtig auf und vergewisserte sich mehrmals, daß er richtig auf der Gabel lag. Wieder war es ein Warten, das Vaters Leben bestimmte. Doch jetzt, denke ich, war es ein anderes Warten als früher. Das bisherige Warten hatte nach den vielen Enttäuschungen etwas Vergebliches und bisweilen hoffnungslos Komisches bekommen, das einen zu Tränen rühren konnte. Vater mußte nicht nur mit den jeweiligen Enttäuschungen fertig werden. Zunehmend hatte er auch gegen die Ungläubigkeit anzukämpfen, die wir nicht mehr zu verhehlen vermochten. Wir hatten ihn aufgegeben, und er wußte es. Das neue Warten muß für ihn ganz anders gewesen sein - natürlich, zielgerichtet, praktisch, und vor allem nicht mehr angefochten durch unsere Zweifel, in deren Spiegel er sich lächerlich vorkommen mußte.
Trotzdem: Als der März zu Ende ging, scheint Vater plötzlich mutlos geworden zu sein. Vielleicht sei das Ganze nur ein übler Scherz, muß er geäußert haben. Warum er den ersten Anruf so lange hinauszögerte - ich weiß es nicht. Vielleicht hatte er wirklich Angst, von sich aus den Schritt in die Wirklichkeit zu tun. Anzurufen - das war noch etwas anderes, als den Brief aus dem Kasten zu nehmen. Er mag gespürt haben, daß damit die Zeit zu Ende ginge, in der er mit seinem Traum allein gewesen war. Vielleicht war er um jeden Tag, der ohne Nachricht aus Monaco verstrich, auch froh - eine Empfindung, die hinter der täglichen Enttäuschung verborgen lag, so daß er nichts von ihr wußte. Jedenfalls bin ich sicher, daß das Kärtchen, auf dem er die Telefonnummer notiert hatte und das wir in der Schublade des Schreibtischs fanden, schon lange dort gelegen hatte, bevor er schließlich zum Hörer griff.
Für den Anruf hatte er sich im Geschäft einen Vormittag frei genommen. Es meldete sich eine Frau, deren Name ganz anders klang als der Name im Brief. Das sei das erste gewesen, schrieb Maman, was ihn unsicher gemacht habe. Sein Französisch sei entsetzlich schlecht gewesen. Die Frau kannte seinen Namen nicht, er mußte ihn dreimal wiederholen. Weil es ihn große Anstrengung kostete, die Gereiztheit zu unterdrücken, geriet er außer Atem.«Ich bin der Preisträger des diesjährigen Wettbewerbs», sagte er mit heiserer Stimme.
Ich kann dich hören, Vater, ich höre dich, als stünde ich draußen im Entrée neben dir.
«Es ist noch nichts entschieden», sagte die Frau,«die Nachforschungen sind in vollem Gang.»Vater erstarrte und stand eine Weile regungslos da, den Hörer fest ans Ohr gedrückt. Alles Leben schien aus ihm gewichen. Schließlich zog er den Brief aus der Tasche. Beim Versuch, ihn mit einer Hand zu entfalten, glitt er zu Boden, und Maman mußte ihn aufheben. Ob er Madame Etxebeste sprechen könne, brachte Vater endlich heraus, nachdem ihm im ersten Anlauf die Stimme versagt hatte. Nein, nicht Excelleste, sondern Etxebeste, Nerea Etxebeste. Vater verhaspelte sich mit dem Namen. Der Name sei ihr nicht geläufig, sagte die Frau. Und nun müsse er sie entschuldigen, sie brauche die Leitung. Er könne ja in einigen Wochen wieder anrufen.«Einen Moment noch», sagte Vater,«warum erst …?»«Ganz einfach», unterbrach ihn die Frau,«so lange wird es eben dauern. Da kann man nichts machen. Au revoir .»
Es dauerte Tage, nein Wochen, schrieb Maman, bis Vater wieder zu sich gefunden hatte. Er war verstört und schlief kaum mehr. Am Nachmittag nach dem Anruf verkaufte er einen bereits verkauften Flügel zum zweitenmal. So etwas war ihm in den fünfzehn Jahren im Steinway-Haus noch niemals passiert. Auch sonst war er im Geschäft nicht bei der Sache. Er, die Zuverlässigkeit in Person, machte Fehler über Fehler, und Maman begann sich Sorgen wegen der Stelle zu machen.
Es verging kein Tag, an dem er nicht mit ihr über jenen rätselhaften Satz
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