Der Klavierstimmer
geschrieben hatte. Gestern habe Vater die neue Oper eingeschickt, hieß es da. Er habe zwei Jahre lang daran gearbeitet, und sie hätten sogar auf die geplanten Urlaubsreisen verzichtet. Er sei erschöpft, aber glücklich. Und dann: Sie werden die Partitur nicht zurückschicken; dieses Mal nicht. Sie dürfen nicht. Es wäre eine Katastrophe. Ich weiß noch, daß ich bei diesen Sätzen eine paradoxe Erfahrung machte: Ich hatte den Eindruck zu wissen, daß genau diejenige Katastrophe eingetreten war, von der Maman sprach. Wenn überhaupt, dann konnte es nur ein Ereignis dieser Art gewesen sein, das Vater zur Waffe hatte greifen lassen. Gleichzeitig aber lag in der Tasche unter meinem Sitz Vaters Brief, der mir das Gegenteil mitteilte. Und was konnte Antonio di Malfitano mit alledem zu tun haben?
Ich machte den nächsten Brief auf. Maman sprach von einem Loch, in das Vater nach Abschluß der Oper gefallen sei; von einer Leere, über die er klage; von seiner Verzweiflung angesichts einer Ablehnung auch dieser Partitur, die er in Gedanken vorwegnahm. Dann kam ein Satz, den ich nicht verstand: Ich werde zu verhindern wissen, daß Frédéric auch dieses Mal übergangen wird. Ich entschied, daß dies nicht mehr sein konnte als der wirklichkeitsferne, pathetische Ausdruck eines starken Wunsches. Das war ein Irrtum. Aber es paßte zu Maman.
Ich hatte Angst vor den weiteren Briefen - Angst davor, daß sie Vaters unmögliche Tat erklären und mich dadurch zwingen könnten, an sie zu glauben.
Vater habe geweint, schrieb Maman in ihrem nächsten Brief, der kurz nach Vaters Mitteilung des ersehnten Erfolgs abgeschickt worden war. Es war das allererste Mal, daß sie Tränen in seinen Augen sah. Er hatte den Brief aus Monaco Samstag morgen aus dem Briefkasten genommen, als sie beim Einkaufen war. Bei ihrer Rückkehr kam er ihr mit dem Briefbogen in der Hand entgegen und überreichte ihr den Text ohne ein Wort. Ein Gesicht wie in diesem Moment habe sie an ihm noch niemals zuvor gesehen, schrieb sie. Es fehlten ihr die Worte, um seinen Ausdruck zu beschreiben. Sagen könne sie nur, daß sie nicht für möglich gehalten habe, daß Vater einmal so weit aus sich herausginge. Den ganzen Tag über las er den Brief immer wieder, während er im Arbeitszimmer auf und ab ging. Beim Essen nahm er ihn mit an den Tisch wie einen Wertgegenstand, den es zu bewachen galt. Es verging kein Tag, an dem er den Brief nicht mehrmals las. Manchmal fuhr er mit dem Zeigefinger die Buchstaben des Briefkopfs entlang, die in das teure Papier eingestanzt waren. Ganz oben war das Wappen der Grimaldis aufgedruckt. Ob es nicht wunderschön sei, fragte er Maman. Dann wieder legte er den Brief zur Seite und betrachtete den Umschlag mit der Marke, die Fürst Rainier III. zeigte.«Diese Marke zusammen mit meinem Namen», sagte er.
Wir haben es geschafft, hatte Maman geschrieben, als sie von dem langersehnten Erfolg berichtete. Ich las den Satz so, als hätte er gelautet: Ich habe es geschafft. Ich weiß nicht warum. Vielleicht, weil er nicht, wie ich es erwartet hätte, lautete: Jetzt hat er es geschafft. Gut, seit der letzten Oper gab es diese neue Gemeinsamkeit zwischen den beiden. Und doch störte mich etwas an dem«wir». Das Wort hatte einen unheilvollen Klang. Doch ich ging darüber hinweg und las nun die Briefe, die von der Reise nach Monaco berichteten, von der Vorfreude auf das große Ereignis und von den ersten leisen Zweifeln, die sich meldeten, um sogleich mit aller Macht zum Schweigen gebracht zu werden.
Im Jahr zuvor hatte das Fernsehen die Aufführung einer preisgekrönten Oper aus der Salle Garnier in Monte Carlo übertragen. Vater hatte die Sendung aufgezeichnet, und an jenem Samstag morgen, als der Brief aus Monaco gekommen war, setzte er sich vor den Fernseher und legte die Kassette ein. Maman erwartete eine Ansage, eine Ouvertüre und dann das Aufgehen des Vorhangs. Statt dessen sah man als erstes, wie der Vorhang fiel, nachdem offenbar gerade der letzte Ton verklungen war. Stell Dir vor, schrieb sie, er hatte das Band nur bis zu dieser Stelle zurücklaufen lassen; er muß sich den Schluß der Veranstaltung, nur den Schluß, Dutzende von Malen angesehen haben. Die Sänger traten nacheinander vor den Vorhang, gefolgt vom Dirigenten. Vater rutschte bis zur äußersten Kante des Sessels, den Kopf weit nach vorne geschoben. Jetzt erschien der Komponist. Er wurde von den Sängern in die Mitte genommen und verbeugte sich. Das Publikum erhob sich und
Weitere Kostenlose Bücher