Der Klavierstimmer
nächtlichen Eskapade träumte ich von Papa, der sich in einem Gewirr von Buntstiften verhedderte, um dann plötzlich auf der Bühne der Berliner Philharmonie zu stehen und sich zu verbeugen. Es war schrecklich, wie sehr dieses letzte Bild ins Groteske verzerrt war. Die Wirklichkeit, an die ich viele Jahre nicht mehr gedacht hatte und die ich mir im Licht der Morgendämmerung in Erinnerung rief, war viel sanfter gewesen und trotz ihrer traurigen Komik würdiger.
Erinnerst du dich, wie er uns das erste Mal in die Philharmonie mitnahm, an einem Vormittag in den Schulferien, als er einen Konzertflügel zu stimmen hatte? Was hatte das Wort Künstlereingang für einen geheimnisvollen, verzaubernden Klang! Wir saßen in dem menschenleeren Raum in der ersten Reihe und erlebten, wie Papa in seiner Arbeit und, wie es schien, in sich selbst versank. Die Kollegen, sagte Maman, spotteten darüber, daß er beim Stimmen stets seinen guten Anzug trug. Doch das war schon immer so gewesen, und der Spott vermochte ihm nichts anzuhaben, denn es gab weit und breit keinen besseren Klavierstimmer als Frédéric Delacroix, das wußte jeder, und die Pianisten rissen sich um ihn. Den Stimmschlüssel am Stimmwirbel, hielt er den Kopf ein bißchen nach rechts geneigt, die Augen waren meistens geschlossen. Papa, er besaß das absolute Gehör.«Das ist ein Gis, ein Fis, ein Des …»- wie oft haben wir erlebt, daß er die Leute mit seiner tonalen Unfehlbarkeit faszinierte! (Dann lächelte er. Immer wenn er eine Prüfung bestand, ob diese oder eine über Operngeschichte, lächelte er. Es war stets das gleiche Lächeln, das - jedenfalls für unsere Augen - die verschwiegene Botschaft aussandte: All das ist nichts; was ich wirklich kann, davon habt ihr keine Ahnung.) Das sogenannte perfekte Gehör, dozierte er, wäre noch etwas ganz anderes: die Fähigkeit, ohne den Bezugspunkt der Stimmgabel sagen zu können, das Normal-A schwinge mit 440 Hertz oder 438 Hertz oder was auch immer.«Niemand kann das», pflegte er zu sagen,«niemand.»Ich kann es nicht erklären, aber obwohl ich das von ihm nicht ein einziges Mal gehört habe, hatte ich stets denn Eindruck, daß er innerlich hinzufügte:«außer mir».
Früh lernten wir von ihm den Unterschied zwischen Stimmen, Regulieren und Intonieren eines Klaviers. In der Schule gaben wir damit an, indem wir die Begriffe ganz beiläufig ausspielten und etwa hinzufügten:«Wenn die Intoniernadel nicht reicht, so kann es vorkommen, daß man die Hämmer feilen und unter Umständen sogar lackieren muß. Natürlich nur, wenn der Pianist einen besonders gläsernen Klang wünscht.»Auch sonst gaben wir uns als Kenner des Metiers, wenn wir (darin warst du unübertrefflich) gelangweilt erwähnten, daß die Mechanik eines Flügels fünftausend Einzelteile umfaßt; daß keine der Quarten und Quinten ganz rein gestimmt wird, sondern daß es darauf ankommt sie zu temperieren , so daß die Quinte unterschwebend , also minimal kleiner als die reine Quinte ist («klar: damit alle Intervalle innerhalb des Quintenzirkels Platz haben»); daß die Terzen und die Sexten groß und die Oktaven weit gestimmt werden; und so weiter. In der fünften oder sechsten Klasse schrieben wir den unvermeidlichen Aufsatz über den Beruf des Vaters. Wir hatten keine Gelegenheit uns abzusprechen, wie immer saßen wir in entgegengesetzten Ecken des Klassenzimmers. (Was die Nähe um so deutlicher spürbar machte.) Trotzdem beschrieben wir beide wie aus einer Feder Papas Haßtiraden auf das Stroboskop, das elektronische Stimmgerät. Die Argumente im einzelnen habe ich vergessen, aber die vehemente Behauptung war, daß nur das erfahrene Gehör zu entscheiden vermöge, wann eine Saite so gestimmt sei, daß sie die Stimmung halten würde, ganz gleich, mit welcher Wucht sie angeschlagen werde. («Anders bei der Harfe», pflegte Papa hinzuzufügen,«da hat der Saitenzug viel größere Toleranz. Beim Flügel liegen zwanzig Tonnen auf der Saite!»)
Was wir auch beschrieben: Papas besonderes, geradezu mystisches Verhältnis zu Holz. Natürlich sah er, was er vor sich hatte; aber er konnte auch riechen , um welches Holz es sich handelte. Und wir lernten durch ihn ein Thema kennen, das dem gewöhnlich Sterblichen spleenig vorkommt, den Klavierbauer aber ständig beschäftigt: die Frage, ob ein Holz wirklich trocken ist. Wir legten die Hand darauf und sagten: ja. Papa strich zärtlich darüber und lachte:«Das braucht noch mindestens ein Jahr.»Es war, als habe
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