Der Klavierstimmer
spanischen Wörter aus dem Mund derselben Leute plötzlich klangen, jetzt, wo wir über Europa waren! Es konnte sich unmöglich um dieselbe Sprache handeln. (Und was dieses Wort Europa mit einemmal für einen wunderbaren Klang hatte - es war, als hörte ich es zum allerersten Male.) Daß Sprachen je nach Umgebung so verschieden sein können! Ist alles Erleben so sehr perspektivisch? Ohne festen Ankerpunkt? Sind Sprache und Erleben etwas so Ruheloses, Wandelbares? Ist es deswegen, daß Menschen so sehr an ihrem gewohnten Ort hängen? Um die Illusion eines festen Kerns zu bewahren?
In Chile, meinem freiwilligen Exil, vergrub ich mich ins Spanische, schon nach wenigen Wochen konnte ich den besonderen chilenischen Tonfall. Ich versuchte, mich in dem fremden Klang neu zu erfinden, mit der Vergangenheit zu brechen, sie zu löschen. Jedes Wort einer anderen Sprache, zumal der deutschen oder französischen, war eine Bedrohung dieser neuen, krampfhaften Erfindung und drohte sie zu unterspülen. In der ersten Zeit gab es Situationen, wo ich davor buchstäblich die Ohren verschloß. Jetzt, nur noch zwei Stunden von Frankfurt entfernt, war es, als löste sich ein jahrelanger sprachlicher Krampf. Das Spanische schien auf einmal nicht mehr zu mir zu gehören. Kleists Text, den ich nach dem Frühstück wieder zur Hand genommen hatte, wirkte in der spanischen Fassung plötzlich komisch, geradezu grotesk. Wie mühelos ich diese Sprache auch verstand - sie war dabei, mir zu entgleiten. Ich schloß die Augen. Sie tat weh, diese Erfahrung. Spanisch war Pacos Sprache.
Im Flugzeug habe ich nur die ersten paar Seiten der Novelle gelesen. An den Ufern der Havel lebte, um die Mitte des sechzehnten Jahrhunderts, ein Roßhändler, namens Michael Kohlhaas, Sohn eines Schulmeisters, einer der rechtschaffensten zugleich und entsetzlichsten Menschen seiner Zeit … die Welt würde sein Andenken haben segnen müssen, wenn er in einer Tugend nicht ausgeschweift hätte. Das Rechtgefühl aber machte ihn zum Räuber und Mörder. Schon auf dem Flughafen von Santiago hatte ich mir einen Ruck geben müssen, um weiterzulesen. Daß Vater sich diesen Stoff ausgesucht hatte - es paßte so gut zu ihm, so entsetzlich gut. Und du hattest am Telefon gesagt, daß nun auch er selbst zum Mörder geworden war. Jetzt, da ich Mamans Briefe gelesen hatte, wogen Kleists Worte noch schwerer. Ich las, wie der Roßhändler durch die Forderung nach einem Paßschein aufgehalten und genötigt wurde, auf einer sächsischen Burg zwei seiner Pferde zum Pfand zurückzulassen. Wie er entdeckte, daß die Geschichte vom Paßschein ein Märchen war, und wie er trotzdem noch ohne irgend weiter ein bitteres Gefühl, als das der allgemeinen Not der Welt, zur Burg zurückkehrte, um seine Pferde abzuholen. Wie er dann seine Pferde, zwei ehemals wohlgenährte Rappen, als dürre, abgehärmte Mähren wiederfand. Und wie ihn der Schloßvogt seiner Empörung wegen schließlich noch verhöhnte und ihm mit den Hunden drohte. Der aufgebrachte Kohlhaas hielt auch jetzt noch an sich, denn nichts war ihm wichtiger, als gerecht zu sein. Es drängte ihn, den nichtswürdigen Dickwanst in den Kot zu werfen, und den Fuß auf sein kupfernes Antlitz zu setzen. Doch sein Rechtgefühl, das einer Goldwaage glich, wankte noch; er war, vor der Schranke seiner eigenen Brust, noch nicht gewiß, ob eine Schuld seinen Gegner drücke. Irgendwann jedoch, das war klar, würde der Damm brechen, und dann würden die Fluten der Rache alles mit sich fortreißen.
Mit solchen Sätzen im Kopf betrat ich in Frankfurt den Flughafen. Als ich am Zeitungsstand vorbeikam, sprang mir das Foto von dir ins Gesicht. Du lehntest dich an der Limastraße aus dem Fenster und spucktest hinaus. DIE WÜTENDE TOCHTER DES OPERNMÖRDERS stand darunter. Zum erstenmal im Leben kaufte ich dieses Blatt. Den Text habe ich nicht gelesen, ich trennte nur das Bild heraus und warf den Rest der Zeitung weg. (Sie ist nicht nur eklig anzu sehen , viel ekliger noch ist es, sie anzu fassen .) Ich wollte auf dem Weiterflug nach Berlin dein heutiges Gesicht betrachten, dem ich in wenigen Stunden gegenüberstehen würde. Ich war noch nicht beim neuen Flugsteig, da hatte ich auch das Bild weggeworfen. Dieses grobkörnige, in der Spuckbewegung erstarrte, verzerrte Gesicht konnte nicht dir gehören. Und was hatte der Fotograf mit deinem Haar angestellt!
Ich brauchte bis Berlin, bis ich dein Gesicht in mir restauriert hatte. Eine ähnliche Anstrengung habe ich
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