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Der Klavierstimmer

Der Klavierstimmer

Titel: Der Klavierstimmer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Pascal Mercier
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weiß ich. Wie leicht ist es, das zu sagen, und wie schwer, es zu erleben! Im Rollstuhl kann man kein Cello halten. Nachdem ich ihn hier das erste Mal besucht hatte, erlebte ich träumend stets von neuem meinen ohnmächtigen Willen, den Zusammenstoß zu verhindern, einen Willen, den ich als stärker erlebt habe (und körperlicher) als jeden anderen Willen vorher und nachher. Es überfielen mich all die zurückgedrängten Eindrücke wieder: von dem frisch geputzten, glänzenden Motorrad, das blutverschmiert auf Michel lag; von seinen fürchterlichen Schreien und dem noch schlimmeren Keuchen, das aus dem Helm hervordrang wie aus einer Gruft; von dem haßerfüllten, sich gleichsam überschlagenden Blick, der auf mich fiel, als ich ihm den Helm abgenommen hatte (aus dem verklebten Haar auf der Stirn floß ihm Schweiß in die Augen, was ihn rasend machte, doch ich wagte nicht, ihn wegzutupfen, und steckte das Taschentuch wieder ein); von dem einen freien Arm, mit dem er nach mir zu schlagen versuchte; von den schrecklichen Schimpfwörtern und Flüchen, die er hervorpreßte, als sie ihn in den Ambulanzwagen schoben; und schließlich von der höflichen, beinahe charmanten Art, mit der mich die Polizisten zu beruhigen suchten, indem sie auf das Verkehrsschild hinwiesen, das Michel mißachtet hatte. Ce n’était pas votre faute, Mademoiselle, je vous assure.
    In den nächtlichen Telefonaten beschuldigte er mich nie direkt. Er kannte die rechtlichen Fakten. Die Angriffe - vielleicht kann man sogar von Vergeltung sprechen - waren feinnerviger. Mit Vorliebe erzählte er, daß er nur zwei Wochen vor dem Konzertdiplom gestanden und eine große Karriere als Solocellist vor sich gehabt hatte. Bei Jacqueline Du Pré sei es Krankheit gewesen, fügte er dann wie einen Refrain hinzu, das sei noch etwas anderes.«Ich weiß, ich weiß», sagte ich.«Sag nicht immer ‹Ich weiß, ich weiß›», schrie er in den Hörer. Das Schlimmste aber waren seine Selbstmordgedanken und die Tatsache, daß sie - da gab es nie einen Zweifel - vollkommen ernst gemeint waren. Was sagt man in solchen Momenten?«Der Balkon ist wunderbar hoch», sagte er mit seinem stählernen Sarkasmus,«und unten ist bildschöner Beton.»Manchmal legte ich den Hörer auf den Tisch und ging in die Küche. Doch dann hörte ich sein Gebrüll aus der Muschel kommen, das war fast noch schlimmer. Zwei- oder dreimal habe ich es nicht mehr ertragen und aufgelegt. Er rief nicht wieder an, er wußte, daß ich es ein paar Minuten später selbst tun würde. Wenn ich ihn besuchte, war es anders. Meine Gegenwart schien ihm gutzutun, und wenn ich das billig eingerichtete, schmuddlige Zimmer hergerichtet hatte, nahm er für einen kurzen Moment meine Hand. Wenn ich unten aus dem Haus trat, sah ich seinen Wuschelkopf über der Balkonbrüstung. In den Armen hatte er Kraft genug, um sich über das Geländer zu stemmen, das wußte ich.
    Hätte ich jene Reise nach Genf nur nie gemacht! Die gerade erreichte Volljährigkeit und der brandneue Führerschein waren es, die mich verführten. Und jemand mußte sich den Wasserschaden ansehen, den die verrückten Mieter in GPs Villa angerichtet hatten. (Wäre das Haus nur gleich verkauft worden! - Darum werden wir uns nun auch kümmern müssen.) Papa konnte nicht weg, und Maman hatte wieder einmal eine Phase, in der sie regelmäßig Morphium nahm. Ich schlug dir vor, gemeinsam hinzufahren. Ein so schneidendes«Nein!»habe ich von dir sonst nie gehört, und auf dem Flug rätselte ich darüber. Gut, wir mochten den reichen alten Angeber mit dem Eierkopf und der Meerschaumpfeife, der uns immer noch wie die angebeteten süßen Zwillinge behandelte, schon lange nicht mehr. Aber er war doch nun schon ein Jahr tot. Woher also deine Heftigkeit? Dasselbe fragte ich mich noch einmal auf dem Friedhof, wo ich nach seinem Grab sah. Dein Gesicht war bei der Beerdigung steinern gewesen, der starre Blick wie aus Marmor. Irgend etwas muß es da geben, von dem ich nichts weiß, und mein Gefühl sagt mir, daß es mit Maman zu tun hat. Werde ich es in deinen Aufzeichnungen lesen können?
    Stolz mietete ich am Flughafen ein Auto und fuhr nach Cologny hinaus. Es war auf dem Rückweg, daß es passierte. Novembernebel lag über dem See. Ich fuhr langsam, das Fernlicht konnte man nicht gebrauchen, es richtete sofort eine gleißende Nebelwand auf. Ich war auf der Hauptstraße und habe ihn nicht den Berg herunterkommen sehen. Auch gehört habe ich das Motorrad nicht. Es war, als

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