Der Klavierstimmer
käme er aus dem Nichts.
Von alledem wolltest du nichts hören. Auch nicht von den drei Tagen, die ich blieb, bis Michel nach Paris überführt werden konnte. Der Nebel lag die ganze Zeit über dem See, ich stand am Fenster des Hotelzimmers und saß am Fenster von Restaurants, immerzu blickte ich in den verfluchten Nebel hinaus, drei Tage lang. Dazwischen Krankenzimmer, Schläuche und das bedauernde Kopfschütteln der Ärzte. Am Telefon warst du einsilbig, und wenn du etwas sagtest, machte es mich wütend. Ich rief nicht mehr an.
Nur ganz langsam begann ich zu verstehen, und ganz klar wurde es mir erst, als ich wieder in Berlin war: Die Erfahrung von Schuld (und es spielt keine Rolle, ob es einen Grund dafür gibt oder nicht) ist etwas, das man nicht teilen kann. Viel weniger noch als Schmerz. An Schmerz kann man Anteil nehmen, und die Anteilnahme kann lindern. Der Versuch eines anderen, an der eigenen Schuld Anteil zu nehmen, macht wütend, und er macht noch einsamer. Das war mit dir nicht anders. Wobei ich das Gefühl nicht los wurde, daß deine zögernde, mühsam aufgebrachte Anteilnahme eigentlich dem Wunsch entsprang, mein Empfinden nach und nach verblassen zu lassen und auszulöschen. Denn du hast sehr wohl verstanden: Es trennte uns, es ließ sich nicht einschmelzen zu etwas Gemeinsamem. Und du warst eifersüchtig auf Michel, den einsamen Krüppel, mit dem mich nun die Intimität der Schuld verband.
Zu Maman drang die Sache gar nicht richtig durch. Der einzige, der verstand und bei dem ich darüber sprechen mochte, war Papa. Das hast du nicht gewußt. Er konnte mich in meinem Empfinden so lassen, wie ich war. Er bedrängte mich nicht, wenn ich meinen Gefühlen, in denen es von Widersprüchen wimmelte, Luft machte. Er legte die Feder zur Seite, und dann war ich aufgehoben in seinem Zuhören. Ich vermisse dich, Papa.
Das zweite, was sich um halb zwölf ereignete, war Mamans Anruf. Werde ich das Telefon um diese Uhrzeit jemals wieder hören können, ohne zu erschrecken? Ich war mit den Leuten vom Film zusammengewesen und hatte mich über die Bemerkung eines Kameramanns geärgert, der meine Art zu schneiden nicht mag. Ich nahm ab und sagte knapp: «Oui?»
«Patricia?» fragte Maman. Es schien mir unendlich lange her, daß ich ihre Stimme gehört hatte.
«Oui, Maman», sagte ich, und in meiner Stimme schwang der Ärger von vorhin noch mit. In der Leitung blieb es still. «Maman? » sagte ich, und dann noch einmal: «Maman?» Sie hat das Zeug wieder genommen, dachte ich.
«Frédéric, il est …», begann sie, dann brach sie mit einem Geräusch ab, als bekäme sie keine Luft mehr.
Mit einem Schlag war mein Ärger vergessen. Fest preßte ich den Hörer ans Ohr. Ich war darauf gefaßt, daß sie sagen würde, Papa sei krank oder verunglückt oder tot.
«Il est … il est … en prison.»
Das letzte Wort hatte sie sehr leise ausgesprochen, fast nur gehaucht. Ich hatte es trotzdem genau verstanden. In der Stille hörte ich mein gepreßtes Schlucken. Ich wollte das Wort nicht wiederholen, nicht im Zusammenhang mit Papa. Endlich, mit einer riesigen Anstrengung, fragte ich:
«En … prison?»
«Oui», sagte Maman, und dieses Mal war es kaum noch zu verstehen.
«Pourquoi?» fragte ich. Ich fragte es mehrmals, jedesmal lauter, schließlich schrie ich es.
«Il est en prison», sagte Maman. Jetzt sagte sie es ohne Stocken, mit abwesender, nach innen gewandter Stimme. So war es keine Mitteilung mehr, auch kein verzweifelter Ausruf. Der Satz drückte einfach den Gedanken aus, der alle anderen Gedanken in ihr ausgelöscht hatte.
«J’arrive», sagte ich und legte auf. Ich fror, als ich bei der Auskunft deine Nummer in Santiago erfragte. Die Zeit dehnte sich, bis es bei dir endlich klingelte. Ich ließ es sicher zwanzigmal klingeln, bevor ich auflegte. Eine halbe Stunde später saß ich im Nachtzug nach Berlin.
Nicht einmal in die Nähe der Wahrheit bin ich auf jener Zugfahrt gekommen. Was ich mir vorstellen konnte: Papa hatte jemanden mit dem Auto überfahren und war schuld. Wenn er über etwas aufgebracht war, konnte er wie ein Anfänger fahren, eckig und ohne Übersicht. Vielleicht war auch Alkohol im Spiel gewesen. Hatte er, seit wir ihn im Stich gelassen hatten, zu trinken begonnen? Noch einmal durchlebte ich den Moment, in dem mir Michel Payot vor den Kühler gefahren war. In letzter Zeit war es mir endlich gelungen, nicht mehr daran zu denken. Jetzt, wo mich im dunklen Abteil eine Flut von beängstigenden
Weitere Kostenlose Bücher