Der Klavierstimmer
am Anfang in Chile regelmäßig unternommen. Ich versuchte damals, dich wieder mit den alten Augen zu sehen, den keuschen Augen des Bruders. Ich habe mir frühere Fotografien vorgestellt, Bilder des Schulmädchens, Bilder, an denen ich den alten Blick wieder einüben könnte. Damit ich wieder hinter jenen Blick im Spiegel zurückfände, in dem ich eine neue Liebe für uns erfand. Jenen Blick, mit dem ich dich verloren hatte.
Auf der Fahrt nach Zehlendorf schreckte ich auf: Was ich mir auf dem Flug mühsam vorgestellt hatte, war bestimmt nicht mehr dein heutiges Gesicht. Ich hatte keine Ahnung, wie das wirkliche Gesicht jetzt war. Überhaupt hatte ich keine Ahnung, wie du jetzt warst. Ich glaube, ich habe es irgendwo schon aufgeschrieben: Ich habe noch nie vor etwas solche Angst gehabt wie vor unserer Begegnung.
Dies war schon mein dritter Tag in den leeren Räumen. Vor drei Uhr früh werde ich nicht einschlafen können. Dann weiß ich, daß Paco schläft. Und daß er nicht mehr anruft. Dabei weiß ich genau, daß er nicht anrufen wird. Und selbst wenn er den Wunsch äußerte: Mercedes würde es kaum erlauben. Dieser ewige Kampf mit ihr. Aber Paco wird den Wunsch nicht äußern. Jetzt sind es nicht mehr zwölf, sondern vierzehn Tage, daß ich ihn im Stich gelassen habe. Gestern nacht hatte ich den Hörer schon in der Hand. Aber was soll ich ihm sagen? Trotzdem: Ich werde nicht vorher einschlafen können. Früher war es deine Zeit, die ich nicht loslassen konnte, jetzt ist es seine. Warum kann ich, seit ich dich verloren habe, nie mehr dort leben, wo ich gerade bin?
Patricia
ZWEITES HEFT
H EUTE IST DER DRITTE TAG nach meiner Rückkehr. Ich war gezwungen, einige Besorgungen zu machen, und dabei sah ich aus der Ferne das Musée d’Orsay. Paris ist jetzt wieder voll von Erinnerungen an dich. Oft sind es Erinnerungen an Erinnerungen, sozusagen Erinnerungen der zweiten Generation: Ich denke daran, wie mich damals nach meiner Flucht so vieles an frühere Erfahrungen gemahnte, die wir hier zusammen gemacht haben. Zum Beispiel an den Besuch dieses Museums. Ich hatte mir vorgenommen, es erst zu betreten, wenn ich eine Unterkunft hätte, einen Ort, wo ich von nun an wohnen würde und beginnen könnte, ein Leben ohne dich zu leben. Damit ich der Erinnerung an Claude Monets La pie besser standzuhalten vermöchte, oder besser: der Erinnerung daran, wie wir im Vorjahr beide verzaubert vor diesem Schneebild gestanden hatten. Damit ich der Aufgabe besser gewachsen wäre, es allein zu betrachten und dadurch in mein neues Leben hereinzuholen. Das Schwierigste würde sein: an die sieben Schritte zu denken, von denen wir schließlich entschieden hatten, daß sie genau den richtigen Abstand ergaben, aus dem das Spiel der Farben den Eindruck wirklichen Schnees hervorrief. Es galt darum zu kämpfen, daß diese Erinnerung bestehen bleiben dürfe, ohne entwertet werden zu müssen und ohne erstickt zu werden in unsichtbaren Tränen. Ganz treu geblieben bin ich meinem Vorsatz dann doch nicht. Immerhin habe ich gewartet, bis ich das Zimmer in der Cité Vaneau gefunden hatte, im letzten Haus der Sackgasse, die mit einer hohen Mauer abschließt. Madame Auteuil versicherte mir mit einem festen Druck ihrer runzligen Hand, die Abmachung gelte, und bereits eine Stunde später war ich im Museum. Den Kampf mit der Erinnerung hatte ich verloren, noch bevor ich den Raum betrat und die Elster auf dem Tor sitzen sah. Es auszuhalten, daß etwas, was man in der Gemeinsamkeit eines Blicks entdeckt hat, jetzt nur noch für die eigenen Augen da ist: Wie macht man das? Wie? «It’s out of this world» , sagte eine Stimme neben mir. Ich weiß nicht, wie der Sprecher aussah, ich bin mit geschlossenen Augen geflohen.
Entgegen meiner Absicht bin ich in der Nacht noch einmal aufgestanden und habe mich weiter in Papas verrückte Scholastik von Erfolg und Mißerfolg verbissen. Denn plötzlich wollte ich wissen, ob es denn in seiner Gedankenwelt nirgends diese Art von Erfolg gegeben hatte: daß einer glücklich ist mit seinem Werk, weil darin ein Stück seiner selbst auf besonders klare Weise zum Ausdruck kommt; oder daß er sein Werk als Erfolg empfindet, weil ihm die Arbeit daran ein besonderes, gesteigertes Erleben von Gegenwart beschert hat. Noch habe ich keine Farbe für solche Ideen gefunden. Aber das mag auch an all diesen Biographien und Autobiographien liegen, die vom Gedanken der öffentlichen Anerkennung oder Mißachtung vergiftet sind.
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