Der Klavierstimmer
er ein besonderes Feuchtigkeitsorgan. Und was den Leim betraf, der verwendet worden war, schien er uns hellseherische Fähigkeiten zu besitzen. Die Verkäufer in Möbelgeschäften gerieten ins Schwitzen, wenn er sie ausfragte und korrigierte. Wie oft haben wir ihn von all den Hölzern reden hören, die man für einen einzigen Flügel braucht: Zuckerahorn für Mechanikteile, helle, dichtfaserige Sitka-Fichte für Resonanzböden, harzhaltige Zuckerpinie für die Resonanzbodenrippen, Bergahorn für Rahmen und Stege, amerikanische Vogelkirsche, schwarzes Walnußbaumholz und Mahagoni für das Gehäuse, Gelbbirke für die Füße und Tulpenbaum für Dekkel, Tastendeckel und Notenpulte.
Wir waren stolz auf Papa, den legendären Klavierstimmer der Suisse romande, den Steinway nach Berlin geholt hatte. Und wir waren unglücklich, daß ihm sein hervorragender Ruf im tiefsten Inneren so wenig Befriedigung zu geben vermochte.
Uns, die Kinder des Chefstimmers, kannte man hinter der Bühne der Philharmonie bald. Für die Getränke an der Theke haben wir nie etwas bezahlt. Zwischen dem Respekt, den man Papa entgegenbrachte, und der Achtung, mit der man den Musikern und Dirigenten begegnete, gab es für unser Empfinden keinen Unterschied. Einmal, da sahen wir Karajan aus dem Zimmer kommen. Er ging so nahe an uns vorbei, daß wir ihn hätten berühren können. Wir waren beide erschrocken über die groben, herrischen Züge.«Herrberrt», sagtest du nachher - das paßt genau.»
Einmal war ich mit Papa dort verabredet. Er sei schon drin, sagten sie. Ich schlich mich leise hinein und setzte mich ganz an den Rand, unsichtbar, so daß Papa sich in dem riesigen Raum weiterhin allein wähnte. Als er mit Stimmen fertig war, packte er das Werkzeug ein, und ich dachte, er würde gehen. Doch dann setzte er sich wieder hin und begann zu spielen, Melodien, die ich bisher nur in seinem Arbeitszimmer gehört hatte. Er machte Fehler über Fehler. Und trotzdem: Die Töne wirkten befreit, als erblickten sie in diesem Moment zum erstenmal das Licht der Welt.
Und dann geschah es: Langsam ging er auf die Rampe zu, unsicher, wo er beim Applaus stehen würde. Ein paar Schritte vor, ein paar zur Seite. Dann begann er sich zu verbeugen. Ich dachte an die Verbeugung eines Butlers. Dabei sah man: Er hörte den Applaus, er hörte ihn übermächtig. Er probierte verschiedene Arten des Lächelns: ein scheues, ein vertrauliches, ein joviales. Danke , sagte er mit den Lippen, Thank you , und schließlich: Merci . Schließlich ging er, wie ein Solist oder Dirigent, die schräge Rampe hinunter, seine Schritte waren unnatürlich federnd, so ging Papa sonst nie. Und da sah er mich. Er erschrak zutiefst: daß ihn nun doch jemand gesehen hatte. (An den Monitor draußen hat er, glaube ich, einfach nicht gedacht.)
«Wirst du es …?»fragte er auf der Heimfahrt.«Nein», sagte ich.«Auch nicht Patrice?»«Nein», sagte ich noch einmal und strich ihm über die Hand. «Merci», sagte er, und nach weiteren Minuten noch einmal: «Merci.»
Es ist halb zwölf nachts. Eine schreckliche Uhrzeit. Jedesmal, wenn ich sie bewußt erlebe, wünschte ich, ich könnte sie überspringen, oder besser noch: sie ein für allemal aus dem zeitlichen Kontinuum herausschneiden, wie ich es im Schneideraum mit Filmbildern mache. Zwei grauenvolle Dinge nämlich ereigneten sich um halb zwölf, Dinge, die ich nie werde vergessen können.
Das eine waren die Anrufe von Michel Payot. Ja, indem ich Paris wählte, wählte ich auch die Stadt, in der Michel Payot in seinem Rollstuhl saß und auf das Ende wartete. (Doch bin ich nicht seinetwegen hierhergefahren, wie du vielleicht annehmen wirst.) Mit keinem Wort hast du in Berlin nach Michel gefragt. Ich hätte dir sagen können: Er ist tot. Im dritten Jahr nach meiner Ankunft hier hat er sich in dem Heim, in dem er vor sich hin brütete, vom Balkon gestürzt. Ich hatte ihn davor länger nicht gesehen und auch einige Tage lang nicht gesprochen, es geschah in der hektischen Zeit, als ich meinen ersten Film machte und jeweils nur wenige Stunden auf der Couch im Schneideraum schlief. Niemand im Heim kannte meine Adresse, und so bekam ich nicht einmal eine Todesanzeige. Ich erfuhr es erst, als ich ihn Wochen später besuchen wollte.
Es war fast auf die Sekunde genau halb zwölf, wenn er mich anrief. In dieser Pünktlichkeit steckte viel Grausamkeit. Ich war es ja, die den Wagen gelenkt hatte, der ihm die Beine zerschmetterte. Ich war nicht schuld, das
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