Der Klavierstimmer
Bildern überspülte, sah ich noch einmal den Scheibenwischer, das Licht der Scheinwerfer, die verwirrenden Reflexe auf der nassen Straße, und ich spürte, wie es gewesen war, auf ein Hindernis zu prallen, das viel zuwenig Widerstand bot. Ce n’était pas votre faute, Mademoiselle, je vous assure. Noch nie, Papa, hatte ich etwas so inbrünstig gehofft wie dieses: daß es dir erspart bleiben möge, in einer Zelle zu sitzen und Bilder dieser Art vor dir zu sehen.
Etwas anderes, was ich mir vorstellen konnte, Papa: daß du mit jemandem in Streit geraten warst und ihn niedergeschlagen hattest, wer weiß mit welchen Folgen. Daß so etwas im Heim vorgekommen war - du hast es stets bei Andeutungen belassen. Es huschte dann ein verschlagener, ja gemeiner Ausdruck über dein Gesicht - der einzige Ausdruck, den ich nicht mochte. Auch beim Militär muß etwas geschehen sein. Ein einziges Mal nur ließest du ein Wort darüber fallen und bereutest es sogleich. Dein Blick wurde gnadenlos hart dabei, doch er stieß mich nicht ab, weil man dahinter die Verletzung ahnte. Wenn es bei Tisch um solche Dinge ging, betrachtete ich deine großen Hände, die plump aussehen konnten und doch so geschickt waren, sobald sie es mit einem Klavier zu tun hatten. Auch auf jener Zugfahrt sah ich deine Hände vor mir und dachte an die Worte, die du zu Maman sagtest, als du den Ehering zum erstenmal am Finger hattest: Da bleibt er. Für immer. Maman war bewegt, wenn sie uns davon erzählte, und sie tat es oft. Deine Treue und deine Gewalttätigkeit, Papa, sie gehörten zusammen. Und heute, wo ich die ganze Geschichte kenne, bin ich - wenngleich es sonderbar klingt - geneigt zu sagen: Sie waren ein und dasselbe.
Als es draußen unter einem regenschweren Himmel zu dämmern begann, schlief ich ein und erwachte erst, als der Zug in Magdeburg hielt. Das Abteil füllte sich. Die Leute hatten die Morgenzeitung gekauft; gleich würden sie sie entfalten. Wieder versteckte ich mich hinter dem Mantel. Ich wollte keine Schlagzeilen sehen; an diesem Morgen interessierte mich die Welt keinen Deut.«Hast du das gelesen?»fragte jemand mit Entsetzen in der Stimme.«Ja, unglaublich», kam die Antwort,«muß ein Verrückter sein; für mich war er der beste.»Die Zeitungen raschelten. Noch eine Stunde bis Berlin.
Il est en prison. Ich befühlte die Manteltasche: Der Schlüssel zur Limastraße war da. Maman begegnen; Papa im Gefängnis besuchen; dich anrufen und nach sechs Jahren das erste Mal wiedersehen. Mein Leben in Paris schien zu verblassen und seine Wirklichkeit zu verlieren. Dabei waren seit Mamans gespenstischem Anruf noch keine zwölf Stunden vergangen. Der Reihe nach, ganz methodisch, rief ich mir die Dinge in Erinnerung, die mein Leben in den letzten Jahren bestimmt hatten: die Zeit im Reisebüro, Stéphane, die Filme, an denen ich mitgearbeitet hatte. Es durfte nicht sein, daß ich ankam, als sei all das nicht gewesen. Um das, was jetzt kam, zu überstehen, mußte ich dem Sog der Vergangenheit das Gewicht und die Festigkeit eines eigenen Lebens entgegensetzen können. Ich schob den Mantel beiseite und setzte mich ganz gerade hin wie jemand, der beschlossen hat, sich dem Kommenden zu stellen.
DER OPERNMÖRDER VON BERLIN. Im ersten Augenblick schienen mich die riesigen Lettern der Schlagzeile, die mir von gegenüber in die Augen fielen, nichts anzugehen. Zwar rief das Wort Oper in mir wie immer ein besonderes Echo hervor. Ich wünschte, ich könnte dieses Wort einmal unbefangen hören, sagtest du vor langer Zeit, und ich erschrak über die verhaltene Wut in deiner Stimme. Von Anfang an, Papa, war es für uns ein besonderes Wort, dessen Klang unauflöslich mit deinem Arbeitszimmer verbunden war, mit dem Glanz des Flügels und dem sanften Kratzen deiner Feder auf dem Notenpapier.«Was ist das?»fragten wir, als wir uns noch recken mußten, um auf den weißen Bogen mit den Linien deuten zu können.«Eine Oper», sagtest du. Eine Weile dachten wir, eine Oper sei ein Stück Papier. Deshalb war es verwirrend, als Maman uns eines Abends sagte, ihr gingt in die Oper. Und verwirrend war auch, daß sie vor dem Grand Théâtre in Genf sagte: C’est l’Opéra . Oper, das war etwas Großes und Wichtiges, etwas Heiliges fast, das hörten wir am Klang eurer Stimme. Nach und nach dann - wir hatten inzwischen ein ungefähres Verständnis - fanden wir heraus, daß Opern auch etwas Unheilvolles an sich hatten, denn sie hatten eine große Macht über euch und diktierten
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