Der Klavierstimmer
auf undurchsichtige Weise die Stimmung zu Hause. Und so kam es, daß uns das Wort Oper zu einem belasteten Wort wurde, das von enttäuschter Hoffnung und Unfreiheit sprach.
OPERNMÖRDER. Ich blickte auf die Brandenburgische Landschaft hinaus, als der Schreck durch mich hindurchging wie ein elektrischer Schlag. Er hatte nicht sofort einen klaren Inhalt, dieser Schreck, eher war er wie eine plötzliche böse Vorahnung. Ich wandte den Blick, und da sah ich das Foto von Papa in Handschellen, an beiden Armen von Polizisten gehalten. Ich finde keine Worte, um zu beschreiben, was ich empfand. Ich muß mich ruckartig, jedenfalls auffällig nach vorne gebeugt haben, denn nun reichte mir mein Nachbar die gleiche Zeitung und fragte:«Möchten Sie es auch lesen?»DER MANN, DER ANTONIO DI MALFITANO ERSCHOSS, stand unter dem Foto, und aus der ersten Zeile des Textes sprang mir das Wort Tosca entgegen. Ich stürzte aus dem Abteil und hielt mich an der Stange vor dem Gangfenster fest. Zwei Leute mit einer Zeitung unter dem Arm gingen vorbei. Ich rannte durch den halben Wagen und schloß mich in der Toilette ein. Dort blieb ich, bis Berlin-Wannsee angesagt wurde. Ich weiß nicht, wie lange es war, ich habe kaum eine Erinnerung daran, alles schien einzustürzen und auszusetzen, ich würgte und taumelte, das ist alles, was ich sagen kann. Die Leute aus dem Abteil reichten mir die Tasche und den Mantel, als sie mein Gesicht sahen. Auf dem Bahnsteig gelang es mir nach einer Weile, langsam und tief zu atmen, dann ging ich zum Taxistand.
Ich konnte nicht denken; sonst wäre ich vom Anblick der Reporter nicht überrascht worden. Das Taxi setzte mich am Mexikoplatz ab. Für den Rest des Weges wollte ich allein sein. Der Fahrer zeigte in die Limastraße hinein.«Dort hat er gewohnt», sagte er,«es steht in der Zeitung.»Ohne viel zu erfassen, ließ ich den Blick über den vertrauten Platz gleiten, bevor ich in unsere Straße einbog. Dort hat er gewohnt . Ich hatte nicht gewußt, daß die Vergangenheitsform so grausam sein kann. Es waren drei Männer, die vor dem Haus standen, zwei von ihnen hatten Kameras. Ich war dankbar für die Wut, die mich erfaßte; sie half mir wieder denken. Im ersten Augenblick war ich versucht umzudrehen. Doch das hätte mich verraten. Ich wechselte die Straßenseite und machte die Runde über die Klopstock- und Schillerstraße zurück zum Grundstück der Sommerfelds. Unser Schleichweg von damals war längst zugewachsen, ich stapfte durch Büsche und hohes Gras. Weißt du noch: der Kellerschlüssel für alle Fälle? Er hatte eine dicke Rostschicht angesetzt und ging erst ins Schloß, nachdem ich ihn abgerieben hatte.
Es war ein dichter Moment und auch ein schrecklicher, als ich die Kellertreppe hinaufstieg und ins Entrée trat. Es ist viel zu groß, dachte ich, und wirkt leer, oder besser: museal. Ganz zu schweigen davon, daß man darin immer friert. Trotzdem staunten die Gäste: die symmetrische Einrichtung; die vier Sessel, Louis XV; die Kacheln mit dem besonderen, provençalischen Rot; der große Gong, mit dem Jeannette in den ersten Jahren zum Essen rief; der hohe Spiegel in der Goldfassung. Er hing also immer noch da, der Spiegel. Und GPs Pendule tickte so laut wie eh und je. Sonst war es still im Haus, beängstigend still, totenstill. Nach Maman zu rufen, wie wir es als Kinder getan hatten, brachte ich nicht fertig. Ich ließ die Reisetasche stehen und ging den Flur entlang. Die Tür zu Papas Arbeitszimmer war zu. Ich blieb davor stehen. Sie war immer etwas Besonderes gewesen, diese Tür. Dahinter war dein Reich, Papa, das Reich deiner Töne und Träume. Dort hast du deine Partituren eingepackt, um sie in die Welt hinauszuschicken, und dort hast du sie auch wieder ausgepackt, weil die Welt nichts von deiner Musik wissen wollte.
Für Maman war es das Musikzimmer, la salle de musique . Sie verstand nicht, daß du manchmal der Bude in Genf nachtrauertest, die du während der Lehre als Klavierbauer hattest, und auch der kleinen Wohnung, als du bereits ein bekannter Stimmer warst. Hattest du es nicht viel besser in dem Raum, den dir GP einrichten ließ, mit zuviel Geld natürlich? Maßgearbeitete Bücherregale bis unter die Decke mit Beleuchtung am oberen Rand wie in einer englischen Bibliothek; antiker Globus; Perserteppiche; zwei Lesesessel mit passender Stehlampe; der Schreibtisch aus Mahagoni. Und natürlich der Steinway, der euch zusammengebracht hat, dich und Chantal de Perrin. Eines Tages, als du nach
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