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Der Klavierstimmer

Der Klavierstimmer

Titel: Der Klavierstimmer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Pascal Mercier
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Spalt, der kaum breit genug war, um das ganze Gesicht zu zeigen, mit Augen, die mir ängstlich erschienen wie die einer weltfremd gewordenen Greisin. (Heute weiß ich, daß ihr Blick nicht von Angst zeugte, sondern von Rückzug aus der Zeit, die draußen ihren Lauf nahm.) Das war nicht das Gesicht der Frau, die eine Nacht lang aus ihren Briefen zu mir gesprochen hatte. Der Anblick ihrer eingefallenen Züge war nicht mit der selbstbewußten Stimme der Briefe zur Deckung zu bringen.
    «Maman», sagte ich, atemlos mit dem Schrecken beschäftigt, den ihr entrücktes Gesicht in mir hervorgerufen hatte. Es schien endlos zu dauern, bis sie mich erkannte und die Tür sich langsam weiter öffnete, so daß ich sie ganz vor mir stehen sah, kleiner als erwartet und sehr verletzlich. Noch immer wartete ich auf das erste Wort von ihr, das mir erlauben würde, die Schwelle zu überschreiten. «Patrice, c’est toi?» fragte sie schließlich im Ton einer Blinden, die in Vorahnungen geschult ist und nur noch eine letzte Bestätigung braucht. «Oui, Maman, oui», sagte ich, trat in die Halle und setzte die Tasche ab.
    Jetzt erst fiel mir auf, daß der Stock fehlte und sie schief stand, die eine Hüfte tiefer als die andere. Den einen Teil von mir drängte es, sie, die so zerbrechlich, ja eigentlich zerbrochen wirkte, in die Arme zu nehmen. Es würde ganz anders sein als damals im Boudoir; zwischen den beiden Umarmungen würden Welten liegen. Der andere Teil meiner selbst aber erstarrte in Erinnerung an jene letzte Umarmung, gegen die ich mich mit einem blinden, archaischen Ausbruch gewehrt hatte, der eines der mächtigsten Tabus brach, das es für einen Sohn gibt.
    Scheu und mit einem verlorenen Lächeln trat Maman auf mich zu, die Arme zögernd ausgestreckt, der Blick flackernd. Es lag etwas Flehendes in ihren Bewegungen, es waren Bewegungen eines Menschen, der von einer überwältigenden Schuld niedergedrückt wird und hofft, trotzdem nicht gänzlich verstoßen zu werden. Es war das ängstliche Zittern in ihren Armen, das meine Erstarrung löste. Ihre Schultern fühlten sich knochig an, als ich sie an mich zog. Und nun sah ich, daß ihre Haut, die mir zunächst nur bleich erschienen war, von dem vielen Morphium leblos und spröde geworden war wie Pergament. Als ich ihre Stirn mit den Lippen berührte, war es, als küßte ich eine Maske.
    «Il est en prison», sagte sie leise. Heute weiß ich, warum sie bei diesen Worten zu Boden sah, als sei sie schuld an dieser fürchterlichen Tatsache. In jenem Augenblick rührte es mich, daß sie als erstes von Vater sprach und nicht, wie ich erwartet hatte, von sich oder unserem Wiedersehen. Und als ich sah, wie sich in ihren sonderbar fernen, leeren Augen Tränen bildeten, schloß ich sie fester in die Arme, ähnlich wie jemanden, dem man Schutz gewährt, nachdem er einem heftigen Gewitter entronnen ist.
    Als ich spürte, wie sie sich gegen mich fallen ließ, als wollte sie für immer in meinen Armen bleiben, faßte ich sie bei den Schultern und schob sie sanft von mir weg. Ihr Blick war immer noch traurig und verloren, als sie zu mir aufsah; aber etwas darin hatte sich verändert, etwas, das ich zunächst nicht zu deuten wußte. Erst als sie die Hand hob und mir mit zitternden Fingern über die unrasierte Wange strich, erkannte ich in dem leisen Lächeln etwas von jenem Blick wieder, den sie sich damals in der abgeschiedenen, unwirklichen Welt des Boudoirs erlaubt hatte.
    Eine jähe Wut schoß in mir hoch, und um ein Haar hätte ich sie heftig von mir weggestoßen. Doch im letzten Augenblick erkannte ich, aus welch großer Ferne dieser zärtliche Blick kam. Es war kein Blick mit einem gegenwärtigen Ziel, kein Blick, der etwas zu erreichen versuchte. Mehr als ein wirklicher, gegenwärtiger Blick war es eine Erinnerung an einen Blick, eigentlich nur das Zitat eines Blicks. Und so beendete ich unsere Umarmung langsam, wenngleich bestimmt und ohne mit den Augen auf ihren Blick zu antworten. Was ich noch wenige Augenblicke zuvor, als ihr entrücktes Gesicht in der Tür erschienen war, für unmöglich gehalten hatte, das wußte ich nun: Das Vergangene, auch wenn es zugeschüttet unter Jahren des Morphiums lag, hatte seine Macht in ihr nicht verloren. Ich mußte auf der Hut sein.
    «Le silence», sagte sie unvermittelt. Ich wartete.«Es war all die Jahre ohne dich so ….»Ich sagte nichts.«Meine Briefe. Du hast nie …»Einen Augenblick lang war ich versucht, den Satz für sie zu Ende zu bringen.

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