Der Klavierstimmer
Doch dann sah ich Paco vor mir, wie er aufstampfte und die Fäuste machte, wenn ich ihm Worte in den Mund gelegt hatte. Pacos Gegenwart und Mamans Gegenwart schoben sich übereinander, und einen Moment lang wurde mir schwindlig. Ich machte einige langsame Schritte auf meine Reisetasche zu.«Du mußt mir nachher erzählen, was geschehen ist», sagte ich mit der Nüchternheit eines Anwalts.«Alles. Und ganz genau.»
Sie mochte den sachlichen Ton nicht. Der Blick, der eben noch ganz aus der Vergangenheit gekommen war, begann unter der Drohung der Gegenwart zu flackern. Sie griff nach einer Strähne im Haar und verschwand aus der Welt, wie sie es immer getan hat, wenn es schwierig wurde. (Die Bewegung war der früheren ähnlich, aber sie wirkte eingerostet, als habe Maman in letzter Zeit wenig Anlaß gehabt, in der Gegenwart anderer ihre ungewöhnliche Art der Flucht anzutreten.) Da wußte ich, daß etwas nicht stimmte. Aber von selbst wäre ich nie darauf gekommen.
Du hast oben auf mich gewartet. Die ganze Zeit über hatte ich gehofft, das würdest du tun, und ich war glücklich zu sehen, daß der Gleichklang unserer Empfindungen soweit immer noch reichte. Als ich mich nach der Reisetasche bückte, fiel mein Blick auf den Spiegel, unseren Spiegel. Es war so sehr unser Spiegel, daß ich mich mit deinen Augen zu sehen meinte und unglücklich darüber war, dir keinen besseren Anblick bieten zu können als meine überanstrengt blickenden Augen und die übernächtigten Gesichtszüge. Im selben Augenblick, in dem ich mit diesem Gedanken beschäftigt war, bemerkte ich Maman, die sich hinter mich schob und meinen Blick in der spiegelnden Fläche suchte. In prüfender Koketterie fuhr sie sich mit beiden Händen durchs Haar. Berechnung lag in dieser Bewegung nicht; sie entsprang dem rührenden Wunsch, die unübersehbaren Anzeichen des Verfalls vor mir zu verbergen. Ich ließ es zu keiner erneuten Begegnung der Blicke kommen, hob die Tasche übertrieben schwungvoll auf und ging rasch zur Treppe.
Das Parfum, das ich beim Betreten meines Zimmers roch, war deines. Im Dunkeln hattest du am Fenster gestanden, auf die Straße geblickt und auf mein Erscheinen gewartet. Ich machte Licht und sah das Bett. Auch du würdest es gesehen haben. Am Zimmer hatte sich nichts verändert. Dort auf dem Bettrand hattest du gesessen, als mich deine reglose Gegenwart weckte. Adieu - auch jetzt hörte ich wieder, wie du es sagtest. Adieu.
Mein Mund war ausgetrocknet, und ich fror, als ich zum Schreibtisch hinüberging. Sein Gegenstück stand bei dir. Für Schüler waren es viel zu üppige Schreibtische gewesen. Als Maman sie uns schenkte, war es, als schwappe eine Welle von GPs überbordender Großzügigkeit durch sie hindurch zu uns. Ich blickte auf die Maserung der Rosenholzplatte. Als es damals darum ging, wer welchen Schreibtisch nahm, hast du in dieser Maserung eine Fratze gesehen, und deshalb wolltest du den anderen. Ich hätte sie auch gerne gesehen, diese Fratze, aber es gelang mir nicht. Auch jetzt nicht.
Im Entrée unten hörte ich Mamans unregelmäßige Schritte. Zu meinem Empfang hatte sie Pumps angezogen, was für die Hüfte Gift war. Ich sah sie in Ballettschuhen vor dem Spiegel stehen, auf den äußersten Fußspitzen balancierend, mit schmerzverzerrtem Gesicht und geballten Fäusten zum Zeichen ihres trotzigen Willens.
Einen Moment brauchte ich noch, bevor ich dir gegenübertreten konnte. Ich nahm Bleistift, Kugelschreiber und Lineal in die Hand, die aus der Schulzeit stammten. Sie hatten dagelegen, als hätte ich sie gestern noch bei den Hausaufgaben gebraucht. Maman hatte versucht, meine Flucht zu leugnen, indem sie in diesem Zimmer die Zeit anhielt. Auch die Bücher auf dem Regal waren dieselben wie damals. Camus, unser Held. Nein, mein Held, den du mir zuliebe gelesen hast. Baudelaire, Petits poèmes en prose; du konntest den halben Band auswendig. Chateaubriand, Mémoires d’outre-tombe; was er über die Zeit in Combourg und über seine Gefühle für Lucile, die Schwester, schreibt - wir haben es immer wieder gelesen, und haben nie ein Wort darüber verloren. Die Rote von Andersch, die du anfangs vor mir geheimhieltest, ich habe nicht verstanden warum. The Long Goodbye von Chandler; im Unterschied zu den drögen Stunden bei Buchin war mir Englisch hier endlich wie eine lebendige Sprache vorgekommen, und ich hatte mich in den amerikanischen Slang verliebt. (Du nicht, das war nicht zu teilen.) Le Rouge et le Noir, das du ein
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