Der Klavierstimmer
ausgesprochen blödes Buch fandest. Und Unmengen von Simenons.
Ich hatte keine Ahnung, wie ich es in diesem Zimmer auch nur eine einzige Nacht lang aushalten sollte.
Wie ich über die Galerie zu deinem Zimmer gekommen bin, weiß ich nicht mehr. Deutlich erinnere ich mich, daß mir die kalte Hand beim Anklopfen zitterte. Weißt du noch, wie wir nach dem Einzug in dieses Haus beschlossen, in Zukunft anzuklopfen? Oder eigentlich war es kein gemeinsamer Entschluß: Du warst es, die es so wünschte. Es war ein erster Abschied von der bedingungslosen, durch keinerlei Scheu getrübten Gemeinsamkeit, die uns in den beiden angrenzenden Zimmern in Genf verbunden hatte. Nachts blieb die Verbindungstür stets einen Spalt offen. Ich habe es dir nie gesagt: In der ersten Nacht in Berlin bin ich aufgestanden und habe die bereits geschlossene Tür einen Spaltbreit aufgemacht. Du warst auf der anderen Seite der Galerie, und das war so weit weg. Gegen Morgen habe ich die Tür zugemacht. Am Ende des zweiten Tages, als das Tragen und Einräumen vorbei war und die Türen sich zum erstenmal richtig geschlossen hatten, klopftest du bei mir, und als ich erstaunt öffnete, verkündetest du die neue Regel.
Ich war aufgeregt, als ich das erste Mal bei dir klopfte. Eine neue Zeit hatte begonnen. Was mir über den Abschied hinweghalf, war das Gefühl, daß wir nun wie Erwachsene waren und daß das Anklopfen etwas Vornehmes an sich hatte. Wir hatten kein besonderes Zeichen. Dennoch wußte ich stets, daß du es warst, wenn ich die beiden leisen Klopfgeräusche hörte, die fast miteinander verschmolzen. Mit Vaters lautem, polterndem Klopfen waren sie ohnehin nicht zu verwechseln. Doch auch Mamans sanfte, zögernde Art zu klopfen hätte ich nie für etwas gehalten, das von deiner Hand stammte. Und ich bin vollkommen sicher, daß dies auch für tausend andere Arten zu klopfen gilt.
Meine Hand wußte noch, wie ich bei dir zu klopfen pflegte. Doch der krampfhafte Vorsatz, es so zu machen wie früher, verdarb alles: Ich begann viel zu leise, und dann ließ mich die Angst, du könntest es überhören, unnötig laut und lange fortfahren. «Oui», sagtest du in meine letzte Handbewegung hinein. Deine Stimme schien mir wärmer und vertrauter zu klingen als vorgestern am Telefon. Aber sie war immer noch weit von der Stimme meiner damaligen Schwester entfernt, die mich in einem weichen, schläfrigen Tonfall zu empfangen pflegte. Eingetreten bin ich in einem Zustand äußerster Wachheit, in dem freilich jede Bewegung und jeder Eindruck unter der Wucht der Erwartung sogleich wieder gelöscht wurde, so daß er nachträglich wie eine Art Bewußtlosigkeit erscheint. Und dann sah ich dich - das erste Mal seit mehr als sechs Jahren.
Du standest in der Dämmerung mit dem Rücken zum Fenster, das Gesicht im Dunkeln, so daß mein Blick den deinen nicht sofort fand. Das erste, was ich statt dessen in mich aufnahm, war der Schattenriß deines Kopfes über gekreuzten Armen. Es sind inzwischen viele Tage vergangen, in denen ich mich an die neue Frisur habe gewöhnen können. Trotzdem spüre ich auch jetzt noch das erste Entsetzen, als ich sah, wie kurz, damenhaft und streng du das Haar trugst. (Nicht der Zeitungsfotograf war es gewesen, sondern du selbst.) Dazu die goldenen Ohrringe, die im letzten Licht schimmerten. Nichts mehr von der wilden Mähne, die dir früher auf die Schultern gefallen war und die du stets von neuem aus dem Gesicht streichen mußtest. Nichts mehr, um Hände und Gesicht darin zu vergraben.
«Salut», sagtest du leise und löstest dich von der Fensterbank. Jetzt erst trafen sich unsere Blicke und versanken ineinander. Einen Augenblick lang war ich nicht mehr vorhanden. Nur du warst noch da. Ich vergrub die Hände in den Taschen. Bis du einen weiteren Schritt machtest und mir die Hände auf die Schultern legtest. Als sich unsere Wangen berührten und ich das ungewohnte Parfum roch, sagtest du meinen Namen. Du sprachst ihn französisch aus, aber ich konnte mich nicht gegen den Wunsch wehren, ihn mit dem italienischen Klang zu hören.«Patty», sagte ich. Ich muß es ein dutzendmal gesagt haben. Und nun wagte ich endlich auch, dich mit den Händen zu berühren.
Im Rückblick kommt es mir vor, als hättest du unsere zerbrechliche Umarmung, die ich aus lauter Angst vor einer falschen Bewegung bald abbrach, ausdehnen mögen. Wir sahen uns an, beide mit Tränen kämpfend.«Ich kann dich kaum noch sehen», sagtest du, das Taschentuch in der Hand,«wir
Weitere Kostenlose Bücher