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Der Klavierstimmer

Der Klavierstimmer

Titel: Der Klavierstimmer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Pascal Mercier
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nun, kurz vor der Erfüllung, zerbrach.
    Den Gedanken, dir nicht mehr als derselbe begegnen zu können wie damals, konnte ich zunächst nur als etwas Bedrohliches, Zersetzendes auffassen, etwas, das meine Loyalität zu dir verraten würde. Doch gab es an diesem Gedanken auch eine andere Seite: daß ich, wenn Santiago mich verändert haben sollte, in dieser Zeit ja doch gelebt hatte, und das nicht nur im äußerlichen Sinne des Wortes. Damals traute ich mich noch nicht aufzuatmen bei diesem Gedanken. Erst jetzt, da ich weiß, daß auch du in diesen Jahren weitergelebt hast, daß du dir das Recht dazu genommen hast (ob mit Anstrengung oder als Selbstverständlichkeit, das werde ich erst erfahren, wenn ich deine Aufzeichnungen lese) - erst jetzt kann ich mir eingestehen, wie befreiend der Gedanke war. Meine Liebe zu dir - ich hatte sie unwillkürlich (und ohne je auf eine andere Idee zu kommen) aufgefaßt als Verbot weiterzuleben in dem Sinne, von dem ich jetzt spreche. Ein Verbot, das ich mir selbst auferlegt hatte, ohne diesen Ursprung zu durchschauen. Daß du dieses Verbot ausgesprochen hättest, wenn auch unhörbar für mich - das habe ich nie angenommen. Vielmehr hoffte ich, es sei ein uns beiden selbstverständliches Verbot, das du genauso blind befolgen würdest wie ich. Daß es ein fürchterliches Verbot war, indem es, das Leben verbietend, den Tod gebot - auf diesen Gedanken bin ich einfach nicht gekommen.
    Ich zahlte und trat in die Dämmerung hinaus, fröstelnd vor Müdigkeit. Es war eine paradoxe Empfindung, die mich ausfüllte, als ich langsam auf unser Haus zuging und feststellte, daß in meinem Zimmer kein Licht brannte: Ich hatte Angst, dir als ein Veränderter zu begegnen, und mußte deshalb hoffen, das Leben in Santiago sei wirkungslos und also unwirklich gewesen; gleichzeitig fürchtete ich, das Leben dort mit der Ankunft in Berlin zu verlieren, und spürte den Wunsch, es als etwas Wirkliches zu bewahren. Es sollte zugleich wirklich und unwirklich gewesen sein, jenes Leben.
    Die Blitzlichter des Fotografen: Es war, als seien es kleine Explosionen in mir selbst. Ich hatte nicht gewußt, daß Wut eine so vollständig körperliche Empfindung sein kann. Die Lichtsalve war wie eine innere Überschwemmung. Noch nie zuvor hatte ich einen Menschen angespuckt. Wie soll ich sagen: Ich war in jenem Moment regelrecht glücklich darüber, daß man das kann: jemanden anspucken. Als ich dann zuschlug, war es, als sei ich Vater auf dem Schulhof und Paco in einer Person. Die Kraft und Schnelligkeit, die plötzlich über mich kamen, hätte ich mir nicht zugetraut. Als die Kamera auf dem Pflaster splitterte, empfand ich eine grimmige Freude.
    Ich trat durch das Gartentor und ging auf die Haustür zu. Als hätte ich schon in diesem Moment (und nicht erst später) eine schreckliche Entdeckung gemacht, starrte ich ungläubig auf die vielen Stellen, an denen der schwarze Lack aufgesprungen und abgeblättert war. Dazu paßte, daß der goldene Zierklopfer, der früher in der Sonne blitzte, wenn wir Kinder ihn poliert hatten, jetzt matt war und schwarze Flecke hatte. Der Eindruck von vorhin, daß inzwischen überhaupt keine Zeit vergangen war, wurde durch diesen Anblick korrigiert und ins Gegenteil verkehrt, ohne daß er mir die Wirklichkeit meines Lebens in Santiago zurückgegeben hätte: Hier schien die Zeit einer ganzen Generation verflossen zu sein. Mindestens so viel Zeit mußte es gewesen sein, damit es an dem Hause, in dem Chantal de Perrin wohnte, zu solchen Vorboten des Verfalls hatte kommen können. Auf dem Namensschild der Klingel lag noch etwas von dem klebrigen Blütenstaub des vergangenen Sommers. Es war sonderbar, klingeln zu müssen; ganz anders als früher, wenn ich den Schlüssel vergessen hatte. Während ich auf die Klingel drückte, fiel mir der Satz ein, den Vater in seinem ersten Brief angefügt hatte: Den Hausschlüssel bewahre ich für Dich auf.
    Ich hörte Maman nicht kommen, und auch das Geräusch der sich öffnenden Tür hörte ich nicht, oder die Erinnerung wurde durch das Gesicht in der schmalen Türöffnung gelöscht. Der Moment, als sich unsere Blicke nach sechs Jahren begegneten, war eingehüllt in eine lähmende Stille. Wenn ich denke, mit welch übertriebenem und trotz des Stocks graziösem Schwung sie früher die Tür zu öffnen pflegte, wenn es geklingelt hatte! Darauf war ich eingestellt gewesen, und ich hatte ihr das Exaltierte daran im voraus vergeben. Statt dessen spähte sie durch einen

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