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Der Klavierstimmer

Der Klavierstimmer

Titel: Der Klavierstimmer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Pascal Mercier
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brauchen Licht.» Lumière, hattest du gesagt, doch dann, als du vom Lichtschalter zurückkamst, sagtest du das Wort noch einmal in unserer Geheimsprache, dem Provençalischen: lume. Lumiero, sagte ich, und: lus . Wie früher. Das Lächeln, mit dem du das vieldiskutierte Wort aussprachst, war ein Vorschlag, wie wir uns von nun an begegnen könnten: ohne Scheu vor der Erinnerung, doch im festen Willen, dem Sog der Vergangenheit zu widerstehen.
    Ein Lächeln mit dieser Botschaft hatte ich noch nie auf deinem Gesicht gesehen. Es brachte mich aus der Fassung, daß es in dem Gesicht, das mir vertrauter war als jedes andere, etwas derart Neues geben konnte. Schlimmer noch war, daß sich dieses neue Lächeln bruchlos in das ganze Gesicht einfügte, das dadurch insgesamt etwas Fremdes bekam. Es hat in dieser Zeit voll von traumgleicher Gegenwart keinen einzigen Morgen gegeben, an dem ich nicht, ohne es zu wissen, dein früheres Gesicht erwartete und über dem Anblick des neuen erschrak. Dabei (so bilde ich mir ein) fand mit jedem Tag, an dem wir uns gemeinsam mit der Vergangenheit beschäftigten, in deinen Zügen ein kleines Stück Rückverwandlung statt. Die strenge Eleganz der neuen Frisur bröckelte, der Scheitel verwischte sich, und als du eines Morgens, als das Haar bereits ein wenig länger geworden war, mit dem roten Band über der Stirn erschienst, gelang es mir ganz von selbst, in der Vorstellung alle Verwandlung rückgängig zu machen. Auch die Spuren des Schlafs um die Augen herum halfen. Sonderbar war es auf dem Friedhof. Da sah ich die früheren, mädchenhaften Züge durch das makellos gepuderte Gesicht hindurchschimmern, und als sich unsere Blicke über dem Grab trafen, war es, als hielten sich die Zwillingskinder von einst die Hand. Erst im Flugzeug nach Paris, so stelle ich mir vor, fügten sich deine Züge wieder ganz zu dem neuen Gesicht zusammen, das sich in dieser Stadt geformt hat.
    In der Nacht nach unserem ersten Wiedersehen holte ich das Bild von dir hervor, das ich stets bei mir trug. Von diesem Bild weißt du nichts. Katharina Mommsen hatte es auf dem Abiturball mit einer Sofortkamera geschossen und mir in einem Moment geschenkt, als du draußen warst. Es zeigt dich am Tisch, das Gesicht in die Hände gestützt. Die Hände mit den Spitzenhandschuhen. Es ist die wunderbarste Portraitaufnahme der Welt, und ich habe sie über die Jahre so oft betrachtet, daß sie von meinen Blicken ganz abgenutzt sein müßte. Als ich das Bild in jener Nacht hervorholte, überfielen mich Trauer und eine kindische Wut auf die Zeit und ihr unbarmherziges Verfließen. So warst du nicht mehr; das Bild war überholt. Was sollte ich damit machen? Es so zu betrachten wie bisher, das ging nicht mehr. Der gewohnte Blick wäre wie eine plumpe, verzweifelte Lüge. Doch wie sollte ich mich von dem gewohnten Blick lösen? Was für eine andere Art von Blick gab es diesem Bild gegenüber?
    Das Foto, das aus aller Zeit und Wirklichkeit herausgefallen ist, verfolgt mich seither. Neulich in der Nacht saß ich hier an Vaters Schreibtisch und versuchte, es zu neuem Leben zu erwecken, damit es mir auch weiterhin ein Begleiter sein könnte. Ich hatte es fast geschafft, da hörte ich in der Stille das ferne Geräusch der S-Bahn, die dich nach unserem Abschied fortgetragen hatte. Die Beschwörung des Vergangenen fiel in sich zusammen, und beschämt ließ ich das Bild in die leere Schreibtischschublade gleiten. Dort ist es immer noch.

Patricia
    DRITTES HEFT
    M EHRMALS AUF DIESEN Seiten habe ich Stéphane erwähnt. Nie ist es mir gelungen, wirklich über ihn zu sprechen. Was wird es - für ihn und für mich - bedeuten, wenn ich hier zum erstenmal in Worte kleide, wie es mit ihm ist? Was machen Worte aus Intimität? Wie wird es sein, wenn ich ihm die Tür aufmache, nachdem ich gerade über ihn geschrieben habe? Ist das Aussprechen solcher Dinge nicht auch eine Art Verrat? Wird nicht die beschriebene Nähe überlagert und verfärbt durch die neue Nähe, die ich zwischen dir und mir durch das Erzählen schaffe? Je länger mein Bericht wird, desto klarer sehe ich, wie zweifelhaft mein Vorschlag war, der sich zunächst so einfach anhörte: uns das Leben zu erzählen, um Freiheit voneinander zu erlangen.

    Um den Anfang zu finden (und sein Aufschreiben zu verzögern), bin ich zum Hotel Plaza-Athénée an der Avenue Montaigne gefahren, wo ich Stéphane zum erstenmal sah. Es war vor knapp zwei Jahren, als ich noch halbtags im Reisebüro arbeitete,

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